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Lebenslügen / Roman

Lebenslügen / Roman

Titel: Lebenslügen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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gelernt hatte, wieder vergessen würde. Das war vermutlich der Tod. Reggie fragte sich zudem, ob ihr Leben wieder in die Spur käme, bevor sie starb. Es schien unwahrscheinlich, jeden Tag hatte sie das Gefühl, als bliebe sie weiter zurück.
    Reggie übersetzte für Ms MacDonald den sechsten Gesang der Ilias, einer der vorgeschriebenen griechischen Texte. Sie wollte einen Blick in den entsprechenden Loeb werfen, um zu kontrollieren, was sie bislang hatte (»Nestor ermahnte mit lautem Ruf die Argeier: ›Freunde und Griechen, Genossen des Ares, lasst niemanden zurück‹«). Sie sollte natürlich nicht im Loeb nachsehen, das war laut Ms MacDonald Spicken. »Hilfreich«, hätte Reggie gesagt.
    Der erste Gesang der Ilias war letzte Woche definitiv da gewesen, aber jetzt fand sie ihn nicht. Sie bemerkte andere Lücken im Bücherregal – der erste und zweite Band der Odyssee und der Ilias, der erste der Aeneis (ein vorgeschriebener Text in Latein). Ms MacDonald hatte sie wahrscheinlich versteckt. Sie mühte sich weiter: »Lasst uns töten die Männer. Danach könnt ihr in Ruhe die Leichen der Toten entwaffnen.« Es gab eine Menge Tote bei Homer.
     
    Nach dem Tod ihrer Mutter hatte Reggie die Postkarte immer in Reichweite, in ihrer Tasche oder neben dem Bett. Sie hatte jedes Detail studiert, als enthielte sie ein Geheimnis, einen versteckten Hinweis. Ihre Mutter war dort gestorben, im leeren türkisen Wasser, und obwohl Reggie sie im Bestattungsinstitut gesehen hatte, nachdem sie nach Hause gebracht worden war, glaubte ein winziger Teil von ihr, dass ihre Mutter noch immer die strahlende Postkartenwelt bewohnte, und wenn sie das Bild nur lange genug betrachtete, könnte sie vielleicht einen Blick auf sie werfen.
    Mum war vor allen anderen Gästen erwacht, sie war eine Frühaufsteherin, ließ den schnarchenden Gary den Sangria vom Abend zuvor ausschlafen, zog ihren unpassenden Badeanzug und ihren rosafarbenen Bademantel aus Frottee an und ging hinunter zum Pool. Den rosafarbenen Bademantel ließ sie da fallen, wo sie am Beckenrand der tiefen Seite stand. Mum hatte ihre Kleider noch nie ordentlich gefaltet. Reggie stellte sich vor, dass sie die Arme über den Kopf hob – sie war eine gute Schwimmerin und sprang überraschend elegant ins Becken – und dann ins kühle Blau des Vergessens tauchte, ihr Haar strömte hinter ihr her wie bei einer Meerjungfrau. Vale, mater.
    Bei der gerichtlichen Untersuchung in Spanien, bei der weder Billy noch Reggie anwesend waren, berichtete die Polizei, dass sie ihren billigen silbernen Anhänger am Grund des Pools gefunden hatten (»Der Verschluss war ein bisschen knifflig«, sagte Gary später schuldbewusst zu Reggie), und spekulierte, dass er sich gelöst hatte, während sie schwamm, und sie getaucht war, um ihn zurückzuholen. Niemand wusste es mit Sicherheit, niemand konnte bezeugen, was geschah. Wenn es nur an dem Morgen passiert wäre, als der Fotograf die Aufnahmen des Hotels machte. Hoch oben in seinem Horst, wahrscheinlich auf dem Dach des Hotels, hätte er gesehen, wie Mum durch das blaue Wasser tauchte, er hätte überlegt, ob er ein Foto mit ihr machen sollte – sich wahrscheinlich dagegen entschieden angesichts des orangefarbenen Lycras und der bleichen Fülle von Mums nördlicher Haut –, und dann jemanden gerufen (»Hola!«), als sie nicht wieder auftauchte. Aber so war es nicht. Als jemand bemerkte, dass sich ihr schönes langes Haar in den türkisen Tiefen im Abfluss verfangen hatte, war es zu spät.
    Ein Kellner, der die Tische für das Frühstück deckte, fand sie. Reggie fragte sich, ob es der »Manuel« von der Postkarte war. Er war in seiner Kellneruniform ins Wasser gesprungen und hatte vergeblich versucht, die englische Meerjungfrau zu befreien. Dann war er herausgeklettert und in die Küche gelaufen, wo er nach dem nächsten Messer griff, zum Pool zurückrannte, wieder ins Wasser sprang und Mums Haar abschnitt, um sie endlich aus ihrem Unterwassergefängnis zu befreien. Er versuchte sie wiederzubeleben – bei der gerichtlichen Untersuchung wurde er gelobt für seine Anstrengungen, die arme unglückselige Touristin zu retten –, aber natürlich vergeblich. Sie war tot. Niemand traf eine Schuld, es war ein tragischer Unfall. Et cetera.
    »Was es wirklich war, Reg«, sagte Gary. Er war bei der Untersuchung dabei gewesen und besuchte Reggie nach seiner Rückkehr aus Spanien, stand unangemeldet vor der Tür, ein Sechserpack Carlsberg in der Hand, »um auf

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