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Lebenslügen / Roman

Lebenslügen / Roman

Titel: Lebenslügen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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Keiner von beiden sprach, es gab gleichzeitig nichts und alles zu sagen. Worte hätten nie vermitteln können, was er empfand, auch wenn er in der Lage gewesen wäre zu sprechen, was er nicht war.
    Er erlebte Euphorie. Das hatte er noch nie getan, auch nicht in den glücklichsten Zeiten seines Lebens – als er verliebt war, als Marlee geboren wurde –, jede Gelegenheit zu reiner, unverfälschter Freude war von Angst umwölkt gewesen. Nie zuvor war er frei von den Sorgen der Welt dahingetrieben. Er hoffte, es würde nie aufhören.
    Das Gesicht seiner Schwester näherte sich seinem, und er glaubte, sie würde ihn auf die Lippen küssen, stattdessen blies sie ihm in den Mund. Der Erkennungsduft seiner Schwester waren Veilchen gewesen – sie benutzte April Violet Cologne, und nach Veilchen schmeckten ihre Lieblingsbonbons, deren Anblick gereicht hatte, damit ihm als Junge schlecht wurde –, er war also nicht überrascht, dass ihr Atem nach Veilchen roch. Er kam sich vor, als würde er den Heiligen Geist einatmen. Aber dann spürte er, wie er aus dem Tunnel gezogen wurde, fort von Niamh, und er kämpfte dagegen an. Sie stand auf und ging fort. Er atmete den Heiligen Geist aus und schloss den Mund, damit er nicht zurückkonnte. Er stand auf und folgte seiner Schwester.
     
    Ein Bruch, eine Störung im Raum-Zeit-Kontinuum. Etwas hatte ihn unglaublich hart in die Brust getroffen. Er war nicht in dem weißen Korridor. Er war im Land der Schmerzen. Und dann, genauso plötzlich, war er wieder in dem weißen Korridor, seine Schwester ging voran, blickte über die Schulter, winkte ihm. Er wollte zu ihr sagen, okay, ich komme, konnte aber immer noch nicht sprechen. Mehr als alles andere in der Welt wollte er seiner Schwester folgen. Wo immer es war, es wäre das Beste, was ihm je zugestoßen war.
    Wieder bearbeitete ein Presslufthammer seine Brust. Er war plötzlich wütend. Wer tat ihm das an, wer wollte ihn daran hindern, seiner Schwester zu folgen?
     
     
    Er war neuerlich in dem weißen Korridor, sah aber Niamh nicht mehr. Hatte sie nicht länger auf ihn warten wollen? Dann war es vorbei, der weiße Korridor verschwand endgültig, stattdessen sah er etwas Merkwürdiges, Flimmerndes, wie eine Empfangsstörung in einem Schwarzweißfernseher. Und mehr heiße Schmerzen wie Blitze, die in seinem Schädel zuckten.
    Es gab ein Wort für das, was er jetzt empfand, aber er brauchte lange, bis er es in seinem verbrutzelten Gehirn gefunden hatte. »Untröstlich« war das Wort. Er war unterwegs gewesen an einen wunderbaren Ort, und irgendein Idiot hatte ihn aufgehalten. Dann verblasste alles, er glitt in Dunkelheit, in Vergessen. Diesmal war da kein weißer Korridor, nur endlose Nacht.

[home]
III
Morgen

Die Hunde, die sie zurückließen
    W as meinte er damit, dass sie fort war? Fort? Fort wohin? Und warum? Um eine alte Tante zu besuchen, die krank ist, sagte er. Sie hatte nie erwähnt, dass sie eine Tante hatte, geschweige denn eine kranke Tante.
    »Sie ist gerade erst krank geworden«, sagte Mr. Hunter ungeduldig, als wäre ihm Reggie lästig, als wäre sie es gewesen, die ihn um halb sieben Uhr morgens anrief. Vom Schlaf benommen, begriff sie nicht, warum Mr. Hunter am anderen Ende der Leitung sagte: »Du brauchst heute nicht zu kommen.« Einen Augenblick lang dachte Reggie, dass es etwas mit dem entgleisten Zug zu tun hatte, und dann – schlimmer –, dass Dr. Hunter und dem Baby etwas zugestoßen war – oder, am schlimmsten, dass Dr. Hunter und das Baby irgendwie von dem Zugunglück betroffen waren. Aber nein, er rief zu dieser unmenschlichen Stunde an, um ihr etwas von einer kranken Tante zu erzählen.
    »Was für eine Tante?«, wunderte sich Reggie. »Sie hat nie eine Tante erwähnt.«
    »Ich glaube nicht, dass Jo dir alles erzählt«, sagte Mr. Hunter.
    »Es ist also alles in Ordnung mit Dr. Hunter und dem Baby?«, sagte Reggie. »Sie sind nicht krank oder so?«
    »Natürlich nicht«, sagte Mr. Hunter. »Warum sollten sie krank sein?«
    »Wann ist Dr. Hunter weg?«
    »Sie ist gestern Abend runtergefahren.«
    »Runter?«
    »Nach Yorkshire.«
    »Wo in Yorkshire?«
    »Hawes, wenn du es genau wissen willst.«
    »Haus?«
    »H-a-w-e-s. Können wir jetzt mit der Fragerei aufhören? Mach ein bisschen Ferien, Reggie. Jo kommt in ein paar Tagen zurück. Dann wird sie sich bei dir melden.«
    Warum hatte Dr. Hunter sie nicht angerufen, das war die Frage. Dr. Hunter hatte immer ihr Handy dabei, sie nannte es ihre

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