lebt gefaehrlich
aber nun wurde sie davon müde. Statt sich noch länger über die wunderbare Rettung zu freuen, befielen sie neue Sorgen. Sie fühlte sich sehr schwach, und obendrein war ihr übel.
Zwar war das nach allem, was sie erlitten hatte, kein Wunder, aber es war trotzdem höchst unbequem. Wenn sie die Wahl gehabt hätte, würde sie sich augenblicklich in ein Krankenhaus gelegt haben, zwischen saubere, kühle Laken, und nur aufzuwachen, um ein paar Schluck Brühe zu trinken und zuzusehen, wie Eisbeutel auf ihre Verletzungen gelegt wurden, ehe sie wieder in Schlaf sank. Statt dessen wurde sie in halsbrecherischer Eile auf holpriger Straße über die Hochebene Anatoliens gefahren und hockte auf dem schmutzigen Boden eines alten Lastwagens. Sie hielt sich krampfhaft fest, um nicht hinausgeschleudert zu werden, und versuchte, sich mit dem Gedanken abzufinden, daß sie nach wie vor in Gefahr schwebten, da Dr. Belleaux inzwischen alles über sie wußte.
Sie sagte: »Dr. Belleaux wird uns diese Flucht sehr übelnehmen. Er hat sich bereits das luxuriöse Leben in Istanbul ausgemalt, das er morgen wieder aufnehmen wollte, nachdem er uns in irgendwelchen Ruinen begraben hätte.«
Ja, Sandor hatte recht. Ohne Colin wären sie jetzt tot. Energisch schob Mrs. Pollifax den Gedanken an eine Ruhepause von sich. »Welche Waffen haben wir, Colin?« fragte sie.
»Ich habe noch immer Stefans Revolver, aus dem drei Schuß fehlen.«
»Mich haben sie nicht durchsucht«, sagte Sandor. Er zog den Revolver hervor, den er ihnen zu Beginn der Reise drohend unter die Nase gehalten hatte. »Aber hol mich der Teufel, er ist nicht geladen«, gestand er betreten.
»Vielleicht kann Onkel Hu aushelfen«, sagte Colin. »Zwar hat ihn auf seinen Fahrten höchstens mal eine Ziege angefallen, aber wer weiß, ob er nicht doch eine Waffe besitzt. Sollte er wieder mal langsamer fahren, will ich ihn fragen.«
Onkel Hu schien jedoch keine Absicht zu haben, langsamer zu fahren. Im Gegenteil, je miserabler die Straße wurde, desto mehr Gas gab er.
Magda lag in eine Decke gehüllt gegen die Wand gelehnt. Sie war fast zu beneiden.
Wenn heute Donnerstag ist, dachte Mrs. Pollifax voller Heimweh, dann würde ich jetzt zu Hause den Bücherkarren durchs Krankenhaus rollen, und morgen hätte ich Karatestunde bei Lorvale. Bestimmt ahnte Mr. Carstairs nicht, daß er mit seinem Telegramm an Dr. Belleaux praktisch ihr Todesurteil unterschrieben hatte, überlegte sie. Sie saß ganz schön in der Falle.
Jede neue Information würde Dr. Belleaux' Wut und seinen Ehrgeiz anfachen. Sie konnten sich ihm höchstens vorübergehend entziehe n, wenn sie die türkische Polizei um Unterstützung baten. Aber dann waren sämtliche Grenzen für Magda versperrt.
Sie würde wieder Allgemeingut und damit Freiwild der Agenten werden. Außerdem befürchtete Mrs. Pollifax, wenn sie sich an die Polizei wandte, erst recht in Dr. Belleaux' Macht zu gelangen. Ihre Beschuldigungen gegen Dr. Belleaux mußten erst überprüft und bewiesen werden. Bis dahin war ihnen das Gefängnis sicher. Und zu den Zellen würden nur Polizisten Zutritt haben. Viele von ihnen verehrten den genialen Kriminologen Dr. Belleaux. Wie würden dann die Schlagzeilen lauten? fragte sich Mrs. Pollifax. Politische Gefangene bei ungeklärter Explosion getötet? Oder Brand in Gefängnistrakt fordert fünf Todesopfer? Sie durfte gar nicht daran denken.
Ohne Paß und als angebliche Mörderin Henrys polizeilich gesucht, bestand jedenfalls zur Zeit keine Aussicht für Mrs. Pollifax, das Land zu verlassen. Sie mußte ihre Hoffnungen ausschließlich auf Magda konzentrieren. Wenn es gelang, Magda unbemerkt über die Grenze zu schaffen, dann war zumindest Magda frei und konnte sich mit Carstairs in Verbindung setzen.
»Wie weit ist es zur nächsten Grenze, Colin?« fragte sie. »Zu welcher?«
»Das ist gleich - nur nicht zur russischen.«
Sandor antwortete: »Zur griechischen ungefähr zweihundertfünfzig Kilometer. Nach Syrien etwa dreihundert.«
»Zu weit. Und wo liegt der nächste Flughafen?«
Colin sah sie entgeistert an. »Ich glaube, daß es in Kayseri einen gibt, fünfzig Meilen südlich von uns. Aber Sie werden doch nicht...«
»Ob sie auf den Verdacht verfallen würden, daß wir uns auf einen Flugplatz wagen könnten?«
»Nein... Ja... Ach, ich weiß nicht«, sagte Colin.
»Mit jedem Tag wachsen Dr. Bellaux' Aussichten, uns zu entdecken. Unser schlimmster Feind ist die Zeit. Aber mit der nötigen Frechheit...«
Sandor drehte sich um.
Weitere Kostenlose Bücher