Lee, Julianne
weiterhin seinem Tagewerk nach, als sei nichts geschehen.
Nicht der Sohn seines Vaters. Die Tatsache, die sein ganzes Leben geprägt hatte, war eine einzige Lüge. Ihm war, als sei seine gesamte Existenz auf einmal nur eine einzige Lüge.
Ciaran ging auf die große Halle zu, blieb aber stehen, als er sah, dass dieses Hadley-Mädchen ihn von der offenen Tür her anstarrte. Irgendetwas in ihren Augen beunruhigte ihn. Es lag entschieden zu viel Wissen darin. Also drehte er sich um, ging durch den Stall zum Westturm zurück und verkroch sich in seiner Kammer.
Leah blickte müßig auf den Burghof hinaus und fragte sich, ob der Wachposten sie wohl aufhalten würde, wenn sie versuchte, ins Dorf hinunterzugehen. Was, wenn er es Vater berichtete? Musste sie dann den ganzen Tag in ihrer Kammer zubringen? Allein die Vorstellung war unerträglich. Sie wollte gerade in die Halle zurückgehen, als der Laird aus dem Stall gerannt kam.
Er bot einen erschreckenden Anblick, rang keuchend nach Luft, war hochrot im Gesicht, und Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Im Burghof blieb er stehen und sah sich nach allen Seiten um, als suche er irgendetwas oder irgendjemanden. Was auch immer es sein mochte, er fand es anscheinend nicht, was ihn noch mehr aus der Fassung zu bringen schien. In einer Faust hielt er einen langen Dolch, und er sah so aus, als wäre er bereit, jedem, der ihm in die Quere kam, damit die Kehle aufzuschlitzen. Leah hätte zu gerne gewusst, was ihn so aufgeregt hatte. Teils aus Neugier, teils aber auch, weil sie ihm gerne geholfen hätte. Vielleicht wurde sie sich dann nicht mehr so sehr wie eine unerwünschte Außenseiterin vorkommen.
Er trat einen Schritt auf sie zu, und ihr Herz begann schneller zu schlagen. Doch dann sah er sie und zögerte. Leah hoffte instän-
dig, er werde auf sie zukommen, doch stattdessen wandte er sich ab und floh in den Stall zurück. Voller Enttäuschung sah sie ihm nach.
Den Rest des Nachmittags und auch die nächsten Tage verbrachte Ciaran damit, die Papiere seines Vaters sorgfaltig durchzusehen. Obwohl er sich einredete, sie nur ordnen zu wollen, wusste er doch, dass er in Wirklichkeit nach einem Beweis für die Ungültigkeit der Adoption suchte. Nach einem Tagebuch vielleicht, in dem von einer gefälschten Adoptionsurkunde die Rede war, oder einem Eintrag in einem der Bücher, der bewies, dass er doch ein Matheson von Geburt her war. Nach irgendetwas.
Aber er fand kein Tagebuch, und seine Geburtsurkunde befand sich in Edinburgh, wo er im Januar 1715 zur Welt gekommen war. Er hatte immer angenommen, seine Eltern hätten wegen der Unruhen in diesem Jahr nicht in Ciorram gelebt. Niemand hatte jemals erwähnt, dass seine Mutter je mit einem anderen Mann als seinem Vater verheiratet gewesen war.
Ramsay. Wer war Ramsay? In Pas Papieren fand sich kein Hinweis auf ihn, obwohl Ciaran drei Tage lang danach suchte.
Auch Calum ließ sich nicht blicken. Niemand dachte sich etwas dabei, denn Calum war ein begeisterter Jäger und ging bei schönem Wetter oft auf tagelange Streifzüge - und oft genug auch bei schlechtem Wetter. Dass er im Frühjahr eine Zeit lang verschwand, wunderte niemanden. Nur Ciaran ahnte, dass sich sein Bruder irgendwo in der Nähe versteckt hielt, um möglichst viele Männer um sich zu scharen, die ihm helfen sollten, Ciaran zu entmachten.
Jeder Tag, der verstrich, ohne dass er von seinem Bruder hörte, bestätigte Ciarans Verdacht, denn auch Calum konnte nicht von Heute auf Morgen genug Anhänger sammeln, um den rechtmäßigen Laird seines Amtes zu entheben. Ciaran konnte nichts anderes tun als warten. Wenn er Glück hatte, war Calum etwas zugestoßen. Vielleicht kehrte er ja nie wieder nach Ciorram zurück.
Inzwischen hatte sich Captain Hadley im Büro des Lairds häuslich eingerichtet, und zwischen Burghof und Nordturm bewegte sich ein stetiger Strom von Rotröcken. Sinann belauschte wichtige und weniger wichtige Gespräche und gab alle Einzelheiten über die Aktivitäten der Rotröcke an Ciaran weiten Gewarnt sein hieß gewappnet sein, und der Laird von Ciorram legte Wert darauf über alle Pläne des Feindes im Bilde zu bleiben. Er kannte die Truppenstärken; wusste, wann und wo Patrouillen eingesetzt wurden, wie gut die Männer ausgebildet waren und wie es um ihren Gesundheitszustand bestellt war. All diese Informationen speicherte er in seinem Gedächtnis, bis er sie nutzen konnte.
Glücklicherweise war die illegale Whiskyproduktion für dieses Jahr
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