Lee, Sharon & Miller, Steve - Liaden 1 - Eine Frage der Ehre V2
sie zu Staub. Und den Staub warf ich weg – hinaus ins All.« Sie lachte bellend. »Jetzt soll er versuchen, die Ohrringe zu finden. Er wollte uns verfolgen und uns dabei ertappen, wie wir das Zeug verscherbeln. Aber der schöne Plan ging nicht auf. Offenbar ist er doch nicht so schlau, wie er dachte.«
»Das Ganze war eine List«, murmelte Priscilla, obwohl der jähe Luftwirbel, den der Drache bei seinem Abflug auslöste, ihr das Sprechen schwer machte. Sie fror. Dann schwitzte sie wieder. Sie riss sich zusammen und vertraute auf die Macht ihrer Stimme und der Worte. »Nur eine List, Dagmar. Er wollte dir Angst einjagen, das war auch schon alles. So wie du mich erschreckt hast. Ich werde ihm erzählen, was sich zugetragen hat. Dass du es ernst meinst. Du wolltest eine Rechnung begleichen. Aber du hast deine Revanche gehabt, Dagmar. Es steht eins zu eins. Du kannst den Jungen laufen lassen. Lass ihn los, Dagmar. Er ist doch nur ein kleiner Bub. Ein Kind. Er kann dir keinen Schaden zufügen. Gib ihn frei und geh deiner Wege.«
Schritte in einer Nebenstraße zerrissen das dünne Band. Dagmar änderte ihren Griff um die Geisel. »Hier herrscht zu viel Durchgangsverkehr, wir hauen ab. Geh los, Junge. Aber ganz langsam. Prissy, du rührst dich nicht vom Fleck, bis ich es dir sage.«
»Nein!« Gordy wand und krümmte sich, und mit einer Hand bekam er den Pfahl zu fassen. Vor ihrem inneren Auge sah Priscilla klar und deutlich einen Baum, mit kräftigem, gesundem Stamm und einem grünen Blätterdach; die Wurzeln drangen tief nach unten, durchstießen das Steinpflaster, das Erdreich und das Magma, bis hinein in die Seele der Welt …
Dagmar fluchte und zerrte an Gordy; ihr Muster, das ohnehin schon ihren Wahnsinn widerspiegelte, verzerrte sich zu einem hoffnungslosen Chaos. Ein weiterer Ruck an Gordy, dann gab sie es auf, ihn von dem Pfahl zu lösen – und aktivierte stattdessen ihr Messer.
Priscilla hörte das tiefe, bösartige Brummen.
In ihrem Innern ertönte das laute Klatschen von schlagenden Schwingen, und ein durch die Luft sausender Körper blockierte ihr Herz, ihre Augen, ihre Sinne und die Seele; ein Schrei spaltete die Stille, ein aberwitziges Kreischen, in dem sich eine lebenslang aufgestaute Wut Bahn brach – das Feuer des Drachen!
Turm der Hafenmeisterin, Theopholis, Stunde des Vicomte
I ch bin gespannt, wie sie es anstellen wird, Mr. dea’Gauss ohne mich fortzuschicken, dachte Shan, während er genussvoll an seinem Wein nippte. Das Begehren der Hafenmeisterin umfloss ihn wie eine warme Woge, und schamlos ließ er sich darin treiben. Die Absicht war, sich gegenseitig Vergnügen zu bereiten, ohne den störenden Ballast einer alten Freundschaft oder den Wunsch nach einer permanenten Bindung – und genau das brauchte er jetzt.
Heiler, sagte er sich mit einem Anflug von Ironie, heile dich selbst.
Der Wein war köstlich.
»Geben Sie es zu, Captain«, forderte die Hafenmeisterin ihn in trägem Tonfall auf. »Der Vorschlag fasziniert Sie.«
Ein wahrhaft meisterlicher Zug. Sie hatten darüber gesprochen, dass sie selbst eventuell an einer Investition interessiert wäre, wobei sie Shan und Mr. dea’Gauss gleichmäßig in die Diskussion einbezog. Shan lächelte und erwiderte den Blick aus ihren schwarzbewimperten Augen.
»Wenn eine Dame einen Vorschlag macht, bin ich immer fasziniert«, erwiderte er kühn.
Sie lachte; seine Antwort gefiel ihr. »Vielleicht sollten Sie und ich uns noch einmal zusammensetzen und den Vorschlag in allen Einzelheiten erörtern.« Sie neigte den Kopf und schloss den alten Herrn in ihr Lächeln mit ein. »Mr. dea’Gauss muss natürlich dabei sein. Ich bin sicher, dass wir beide seines klugen Rates bedürfen.«
Shan hob sein Glas. »Vorläufig warten Geschäfte auf mich - morgen sowie übermorgen bin ich nicht frei. Sie werden verstehen, Ma’am, dass ich mit bestimmten Leuten persönlich verhandeln muss, auch wenn es um ganz normale Routineangelegenheiten geht.«
»Natürlich«, bestätigte sie großzügig. »Ich überlege, ob ich nicht in den nächsten Tagen an Ihrem Stand auf dem Großen Platz vorbeischaue. Bis dahin hat sich in Ihrem Terminplan vielleicht etwas geändert.«
»Aber das wäre ja herrlich!«, erwiderte er und lächelte breit. »Über Ihren Besuch würde ich mich ungemein freuen, Ma’am.« Er sprach die Wahrheit, doch er wäre noch viel entzückter, sie in der kommenden Nacht zu sehen – und er wusste sehr wohl, dass sie ihn aufsuchen
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