Lee, Sharon & Miller, Steve - Liaden 1 - Eine Frage der Ehre V2
einer Stunde Schiffszeit ab. Auf dich nimmt der Captain vielleicht noch Rücksicht, aber ich darf mir keinen Patzer erlauben. Lass uns gehen.«
»Na schön«, gab er nach, ohne den Blick vom Schaufenster loszureißen.
Priscilla seufzte und entfernte sich ein paar Schritte. »Gordy?«
»Ja, ich komm’ ja schon.«
Kopfschüttelnd schlenderte sie die Straße entlang, ihr Bewusstsein so justierend, dass die Matrix von Gordys Emotionen unbeeinflusst blieb.
Sie erschrak zu Tode, als er hinter ihr plötzlich schrie.
»Priscilla!«
Mit der Geschwindigkeit einer Pilotin flitzte sie zu der Frau, die das zappelnde, sich wehrende Kind festhielt. Als sie noch zwei Schritte entfernt war, drehte die Frau sich um; eine Schulter gegen einen hohen Pfahl gestützt, hielt sie den Jungen mit einer Hand umklammert, während sie mit der anderen etwas Glänzendes an Gordys Kehle drückte.
»Stehenbleiben, Prissy!«
Das Glitzern stammte von einem noch nicht aktivierten Vibro-Messer.
Priscilla erstarrte.
»Gut. Das ist sogar sehr gut, Prissy. Du bleibst, wo du bist.« Dagmar grinste. »Wo steckt eigentlich dein weißhaariger Freund? Wird er dich heute nicht gegen Kaution raushauen?«
Gordy verströmte Wut und Angst. Priscilla schottete sich gegen ihn ab. Dann öffnete sie einen schmalen Pfad, von ihrem Herzen zu Dagmars Herz. Sie lauschte, tastete hin und her, entdeckte Mordlust, Furcht, Groll und Begehren, eine zersplitterte Kakophonie ohne jegliches Muster, die sich pausenlos veränderte, kurz einfror und sich jedes Mal wieder in scharfkantige Fragmente auflöste.
Sie war wahnsinnig.
Gordy zappelte in Dagmars Griff, dann rang er verzweifelt nach Luft, als sie ihn brutal an sich presste.
»Wenn du brav bist und schön stillhältst«, knurrte sie, »dann lasse ich dich leben.« Sie gab einen Laut von sich, der wie ein Lachen klang. »Na klar lasse ich dich leben – ungefähr eine Minute lang. Vielleicht auch zwei.«
Priscilla, die nach einer Waffe suchte, durchstöberte hastig ihren Geist und fand einen Rhythmus; sie griff ihn auf, obwohl sie plötzlich eine Bewegung spürte. Licht und Dunkelheit wechselten sich in rascher Folge ab, und sie sah den wuchtigen Kopf eines Drachen. Er spreizte seine gewaltigen Schwingen, während sie den Zauber-Rhythmus auf ihren Körper übertrug; dann tat sie einen halben Schritt nach rechts.
»Bleib stehen! Wenn du willst, dass dieses Balg noch ein paar Sekunden zu leben hat, Prissy, dann rühr dich nicht vom Fleck!« Dagmar grinste und bewegte das Messer, ohne es jedoch einzuschalten. »Und schau nicht weg, Schätzchen. Du sollst deinem Lover ganz genau schildern können, was hier passiert ist.«
»Wie du willst«, stimmte Priscilla zu; ihre Stimme nahm einen magischen Klang an, die Worte glichen Bändern aus klebriger Seide. »Ich werde zusehen, Dagmar. Natürlich tue ich das. Aber soll ich ihm wirklich alles berichten? Das wäre sicher nicht klug. Wenn ich alles berichte, bist du geliefert, Dagmar. Jeder weiß dann, wer den Jungen umgebracht hat. Und man findet dich – überall!«
Die fernen Schwingen breiteten sich aus, noch zögerte der Drache. Priscilla wagte es nicht, sich noch einmal zu rühren; mit ihren Augen nahm sie Blickkontakt zu Dagmar auf, während ihr Herz Dagmars Herz beobachtete.
»Das Beste wäre, du ließest den Jungen gehen. Wenn du ihm nichts zuleide tust, lässt man dich auch unbehelligt. Lass ihn los und beruhige dich. Finde Ruhe und Frieden. Befreie dich von allen bösen Gedanken. Genieße die Stille. Lass den Jungen los. Dreh dich um und geh weg. Keine Jägerin, keine Beute. Die Jagd ist vorbei. Lass den Jungen los …«
Dagmars Muster glättete sich, fügte sich zu etwas zusammen, das halbwegs gesund war. Der Drache hielt sich zurück, die Schwingen in einer Stellung, die ihm die sofortige Flucht ermöglichte.
Ein Schwertransporter donnerte ganz in der Nähe vorbei und zerstörte den Kreis, den sie gewoben hatte. Dagmar festigte ihren Griff um das Messer.
»Keine Bewegung!«, zischte sie.
Priscilla stand regungslos da, fixierte ihre Feindin und gestattete es ihr nicht, den Blickkontakt abzubrechen. »Dagmar«, setzte sie von neuem an, den Faden des mentalen Gespinstes aufnehmend.
»Hat dein Lover dir deine Sachen zurückgekauft, Prissy?«, höhnte Dagmar. »Nicht schlecht. Aber die Ohrringe, die hat er nicht bekommen. Die werden nie wieder auftauchen. Sie waren mit einem Peilsender versehen, nicht wahr? Ein uralter Trick. Ich nahm einen Hammer und klopfte
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