Lee, Sharon & Miller, Steve - Liaden 1 - Eine Frage der Ehre V2
stehen. Shan ist ein Ehrenmann – wenn er einer Frau ein Geschenk macht, dann bestimmt nicht aus Berechnung.« Sie blickte ihrer Freundin ins Gesicht. »Die Ohrringe gehören dir, Priscilla. Sie wurden dir ohne Hintergedanken geschenkt. Es kann nicht schaden, wenn du sie trägst.« Sie schob ihre Freundin durch den vorderen Teil des Geschäfts, vorbei an der Arbeitskleidung und den Alltagsstiefeln; auch die schicken Tuniken und die etwas eleganteren Schuhe ließen sie links liegen. Dann gelangten sie in einen hinteren Raum, in dem Gewänder aus traumhaft schönen Stoffen die Blicke auf sich zogen, und in dem die Luft nach Parfüm duftete.
»Ich glaube nicht …« setzte Priscilla an und starrte um sich, wie ein halbwildes Wesen.
»Bah!«, entfuhr es Lina wieder, und sie winkte energisch ab. »Warum sperrst du dich dagegen, ein Kleid anzuziehen, das deine Vorzüge betont?« Wieder kuschelte sie sich an ihre Freundin und berührte sie sanft mit der Hand, um sowohl einen körperlichen als auch einen mentalen Kontakt herzustellen. Sie spürte Priscillas aufkeimende Panik und wollte sie trösten. »Priscilla, du bist eine unglaublich schöne Frau. Warum machst du dir und allen anderen, die dich sehen, nicht die Freude, deine äußerlichen Vorzüge durch ein schickes Kleid zu unterstreichen? Außerdem erfordert es der Anlass, dass du in einem festlichen Gewand erscheinst.«
Aber Priscilla hörte gar nicht mehr zu. Sie bückte sich und streichelte leicht über Linas Haar, dann legte sie eine Hand unter das kleine Kinn und hob das Gesicht ein wenig an, bis der Lichtschein darauf fiel. Ruhig sah Lina in die blitzenden schwarzen Augen ihrer Freundin; sämtliche Wege, die in ihr innerstes Wesen führten, waren offen, die mentale Mauer total in den Hintergrund gerückt.
»Du gehörst dem Zirkel an«, murmelte Priscilla, als spräche sie zu sich selbst. »Ich fühle die Wärme, die du verströmst, als stünde ich vor einem Kaminfeuer, meine Freundin. Aber du hast auch Schmerzen kennen gelernt, ehe du geheilt wurdest …« Sie ließ die Hand wieder sinken; Lina reckte ihr weiterhin ihr Gesicht entgegen und hielt dem forschenden Blick seelenruhig stand.
»Was bist du, Lina. Eine Gemahlin? Oder eine Hexe?«
»Ich war zweimal Gemahlin – durch einen Vertrag, wie es sich gehört. Und ich bin Mutter von zwei Söhnen: Bey Lor und Zac. Von Beruf bin ich Bibliothekarin, und ich habe eine Ausbildung als Heilerin genossen. Ich weiß nicht, was eine Hexe ist, meine Freundin.«
»Heilerin?« Priscilla furchte die Stirn. »Bei uns auf Sintia sagt man, eine Heilerin sei eine Seelen-Weberin. Wenn der Geist eines Menschen erkrankt …«
»Wenn jemand keine Lebensfreude mehr empfinden kann«, ergänzte Lina. »Shan sagte mir, der korrekte terranische Ausdruck für das, was wir unter einer ›Heilerin‹ verstehen, sei ›Empath‹.« Sie zögerte. »Ich bin mir nicht sicher, ob er Recht hat. Eine Heilerin vermag nicht jedem zu helfen. Es gibt Personen, von denen empfange ich nicht die geringsten Signale. Jemand, der die Kunst des Heilens ausüben will, muss sich einem rigorosen Training unterziehen. Es gilt, verschiedene Techniken zu lernen, außerdem ist es wichtig, sich Schutzmechanismen anzueignen.«
»Ja, natürlich.« Priscilla runzelte immer noch die Stirn. »Aber ich …«
»Du«, unterbrach Lina sie, »hast dich gegen alles gesperrt, was Freude auslöst, du wolltest weder lachen noch den freundschaftlichen Umgang mit anderen Personen. So konnte das nicht weitergehen. Ich besaß die Fähigkeit, dir zu helfen. Warum hätte ich es nicht tun sollen?« Sie rückte näher an Priscilla heran, sämtliche mentalen Barrieren niederreißend. Es kümmerte sie nicht, dass sich noch weitere Leute im Laden aufhielten. »Priscilla? Wir sind Schwestern. Du hast es selbst gesagt. Und ich streite es nicht ab.«
Ein brennender Schmerz durchzuckte sie, als hätte jemand Säure auf sie gespritzt; doch gleich darauf folgte eine Aufwallung von Freude, die genauso intensiv zu fühlen war. Lina schlang ihre Arme um die Taille der Freundin und drückte sie fest an sich; sie spürte, wie Priscilla die Umarmung erwiderte.
»Schwestern und Freundinnen …« Nachdem Priscilla die kleine Liadenfrau so eng an sich gepresst hatte, dass sie ihr beinahe die Rippen zerquetscht hätte, merkte Lina, wie sie losgelassen wurde. Ihr Geist war erfüllt von einer überschäumenden Glückseligkeit, ein Nachhall des Hochgefühls, das Priscilla durchdrang und auf sie
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