Leg dich nicht mit Mutti an: Roman (German Edition)
nicht so anstrengen!« Er trat zu mir ans Bett und verstellte es mit zielsicherem Griff, um es mir leichter zu machen.
Dann gab er mir höflich die Hand. »Guten Tag, mein Name ist Tobias Anders. Kriminalhauptkommissar Anders.«
Als ob ich das nicht wüsste. Zumindest an den Vornamen konnte ich mich deutlich erinnern, er hatte sich meinem Jüngsten ja ausführlich vorgestellt. Den Nachnamen und den Dienstgrad hätte ich bestimmt auch noch gewusst, wenn ich mir den Dienstausweis gründlicher angesehen hätte.
»Annabell Wingenfeld«, sagte ich, mit einer Stimme, die sich anhörte, als hätte ich eine Wagenladung Kies im Mund. Auch meine Haare sahen sicher aus, als wäre ich unter einem Laster durchgekrochen. Warum hatte ich sie mir nicht wenigstens zusammengebunden? Doch das hätte auch nicht viel am Gesamtbild geändert. Als ich heute früh zum Zähneputzen in das zum Zimmer gehörende Bad getapert war, hatte ich mich im Spiegel gesehen. Da war jede Mühe umsonst. Ich sah aus wie jemand, der seit Monaten in einem dunklen Keller hauste, zusammen mit kleinen lichtscheuen Tieren, ohne Zugang zu solchen grundlegenden Errungenschaften der Zivilisation wie beispielsweise einem Abdeckstift. Hätte ich bloß Berits Angebot angenommen. Als sie gestern da gewesen war, hatte sie mir ihre Grundierung borgen wollen, ein Produkt mit dem nützlich klingenden Namen Der Löscher .
»Ach, lass mal, für die paar Tage lohnt sich das doch nicht«, hatte ich abgewiegelt. Jetzt saß ich da, ein Wrack mit Augenringen, und mir gegenüber stand dieser Typ von der Polizei und sah geradezu unverschämt frisch und gesund aus.
»Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen zu dem Überfall stellen«, sagte Tobias Anders. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht und Sie bereits in der Lage sind, sich darüber zu unterhalten.«
»Äh … ich bin noch ziemlich erledigt«, sagte ich. »Vielleicht kommen Sie heute Nachmittag noch mal wieder.« Bis dahin konnte ich mich kämmen und den Löscher auftragen.
»Vielleicht kriegen wir es ja doch jetzt schon hin. Viele Fragen sind es nicht. Nicht so viele, wie Sie gestern schon der Presse beantwortet haben.« Er zog ein zusammengefaltetes Exemplar des BLATT aus seiner Jackentasche und klappte es auseinander.
»Oh«, sagte ich lahm. »Darf ich mal sehen?«
Er gab mir die Zeitung. Von der ersten Seite starrte mich ein hohläugiges Gespenst an, mit wirren Haaren und im Krankenhaushemd. Die riesige Schlagzeile daneben lautete:
DER KILLER LIESS SIE IN IHREM BLUT LIEGEN
Der Artikel darunter war auch nicht gerade ein Musterbeispiel journalistischer Finesse.
Nur knapp dem Tode entronnen ist die dreifache Mutter Annabell W. aus F., die um ein Haar einem grausamen Mord zum Opfer fiel. Der maskierte Killer, der unmittelbar zuvor die Bank ausgeraubt hatte, schoss brutal auf die tapfere Frau, bevor er unerkannt flüchtete. Sie hatte gewagt, den verängstigten Bankkunden Mut zuzusprechen, und sollte offenbar dafür sterben. DAS BLATT sprach exklusiv mit der mutigen Schwerverletzten, deren Leben nur in einer mehrstündigen Notoperation gerettet werden konnte.
DAS BLATT : Was hat Sie an diesem schicksalhaften Tag in die Bank geführt?
Annabell W.: Ich wollte eigentlich bloß eine Hypothek für mein Haus beantragen. Wir brauchen ein neues Dach, es regnet schon rein. Ich hatte mit dem Filialleiter gesprochen und wollte danach gerade wieder gehen. Da war plötzlich der Bankräuber im Schalterraum. Dann ging alles ganz schnell.
DAS BLATT : Sie haben große Selbstlosigkeit und Besonnenheit bewiesen, indem Sie den anderen Kunden geistesgegenwärtig vorschlugen, sich auf den Boden zu legen. Dachten Sie dabei gar nicht an Ihr eigenes Leben?
Annabell W.: Nein, es blieb keine Zeit zum Nachdenken. Ich habe ganz spontan gehandelt.
DAS BLATT : Haben Sie denn wenigstens die Hypothek bekommen?
Annabell W.: Ich fürchte, ich verdiene zu wenig, um sie abzahlen zu können. Als dreifache Mutter kann ich in meinem Job nur Teilzeit arbeiten. Mein Jüngster geht noch in den Kindergarten. Mein Mann ist schon vor Jahren gestorben.
Damit war das Interview auch schon zu Ende. Danach folgte noch ein Absatz mit abschließendem Text.
Die tapfere Frau ringt nach Worten, ihr Gesicht ist blass und vor Schmerzen verzerrt. Man sieht ihr an, dass sie das Geschehene noch nicht richtig begreift. Doch für ihre drei Kinder will sie ganz schnell wieder gesund werden.
Die Mutter der Verletzten, Lieselotte B. (65), eilte sofort nach der schrecklichen Bluttat
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