Leg dich nicht mit Mutti an: Roman (German Edition)
kriegte es ganz gut hin. »Ich bring das mal eben weg«, sagte er. »Bin gleich wieder da. Nehmen Sie doch einfach schon Platz.«
Er deutete in sein Büro, wo sich weitere Aktenberge häuften, dann eilte er mit seinem Stapel davon.
Ich setzte mich auf denselben Stuhl wie beim letzten Mal. Fotoalben sah ich nirgends, vielleicht ging Tobias die gerade holen?
Schneller als erwartet war er zurück, und wieder merkte ich, dass mein Herzschlag sich abnorm beschleunigte, es fühlte sich an wie nach einem Hundertmetersprint.
»Da bin ich wieder«, sagte er überflüssigerweise.
»Ja«, erwiderte ich mindestens genauso überflüssig.
Er setzte sich neben mich und blickte mich fragend an. »Wie geht es Ihnen eigentlich?«
»Sehr gut, danke.«
»Sie sehen auch sehr gut aus«, sagte er.
Oh. Was wollte er mir damit sagen? Dass ich nicht mehr wie die Beinahe-Leiche auf dem BLATT -Foto aussah? Oder dass ich gut im Sinne von attraktiv aussah?
»Danke«, sagte ich vorsorglich. Es hätte ja sein können, dass er Letzteres gemeint hatte. Zumindest theoretisch.
»Macht das Dach Fortschritte?«, fragte er.
»Leider nicht. Der Dachdecker war schon seit Tagen nicht mehr da. Ich glaube, da gibt es Probleme.«
»Oh, das tut mir leid. Hoffentlich wird das bald wieder.«
»Ja. Sonst könnte es reinregnen. Aber wenigstens kriege ich gerade neue Leitungen.«
»Ah. Sehr gut. Und was machen die Kinder? Geht es denen auch gut?«
»Mein Jüngster muss oft reihern. Aber meine Tochter hat gerade den Führerschein gemacht.«
»Gratuliere.«
»Danke.«
Ich rekapitulierte, was ich bis jetzt alles gesagt hatte und war davon überzeugt, dass Tobias in seiner gesamten beruflichen Laufbahn nie etwas derartig Grenzdebiles gehört haben konnte.
Tobias räusperte sich. »Kann ich Ihnen was zu trinken anbieten? Wasser, Kaffee?«
»Wasser bitte.« (Mit dem Wort Kaffee hatte ich keine guten Erfahrungen).
Er sprang auf, ging raus und kam kurz darauf wieder zurück, mit einer Flasche Mineralwasser und zwei Gläsern. Beim Eingießen ging ihm etwas daneben, und verdutzt merkte ich, dass er nervös war. Vielleicht hatte er Stress mit seinem Vorgesetzten. Oder eine schlimme Tatortbesichtigung hinter sich. Es war zwar fies von mir, dafür dankbar zu sein, aber so war ich wenigstens nicht die Einzige, die durch den Wind war.
Mir war bereits aufgefallen, dass er diesmal mehr Mühe auf sein Äußeres verwendet hatte als die letzten Male. Er war frisch rasiert, und sein Hemd war fleckenlos sauber. Die Jeans sahen neu aus. Und er roch gut. Nicht aufdringlich nach Deo oder Rasierwasser, sondern irgendwie … männlich.
Was war los mit mir? Entwickelte ich ein Entbehrungssyndrom? Wieso konnte ich in Gegenwart eines Kriminalbeamten nicht einfach entspannt dasitzen und meinen Bürgerpflichten nachkommen? Schon neulich beim Kaffee mit Harald Kleinlich hatte ich mich wie ein aufgescheuchtes Huhn gefühlt.
Um mich davon abzulenken, griff ich nach meinem Wasserglas und verschüttete dabei mindestens genauso viel wie vorhin Tobias.
Der rief derweil an seinem Laptop eine Datei auf.
Ich nutzte die Gelegenheit, mich etwas weniger stupide zu präsentieren, indem ich eine Frage stellte. »Sind die Verbrecheralben inzwischen digitalisiert?«
»Fast alle. Auf Behördisch hießen sie übrigens früher Lichtbildvorzeigekartei. Heute nennt man sie Eddi, als zusammengesetzte Abkürzung für Erkennungsdienst und digital . Klingt doch netter, oder?«
»Auf jeden Fall«, stimmte ich zu. » Behördisch klingt übrigens ebenfalls nett. Und vor allem witzig.«
»Das war auch Sinn der Sache.« Er lächelte. »Dann wollen wir doch mal schauen.« Er rückte mit seinem Laptop näher an mich heran, damit ich besser sehen konnte.
Es war fast wie in meinem Traum, nur ohne Katalog.
»Ich habe einfach mal eine Auswahl zusammengestellt«, sagte er. »Von hageren, frettchenartigen Straftätern.«
Er zeigte sie mir einzeln, und ich musste mich sehr nah zu ihm hin beugen, um sie genau studieren zu können. Von den Straftätern sah ich trotzdem kaum was. Ich war zu sehr damit beschäftigt, seine kräftigen, sanft mit dunklen Härchen bewachsenen Handrücken zu betrachten. Und die gelenkigen Bewegungen seiner Finger, mit denen er die Tasten drückte. Außerdem erforderte es viel Konzentration, seiner Stimme zu lauschen, die rau und samtig zugleich war, obwohl ich vorher jederzeit geschworen hätte, dass so etwas überhaupt nicht möglich war. Meine Hörnerven mussten eine direkte
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