Leg dich nicht mit Mutti an: Roman (German Edition)
hätte ausreden können. Offenbar machte sie ihre Ankündigung wahr. Zehn Minuten später fuhr der Wagen weg, und kurz darauf kam ein anderer, der in ausreichender Entfernung von Frau Hegemanns Haus parkte, aber immer noch in Sichtweite von meinem Grundstück.
Nach einer Weile rief sie wieder an. »Der Kerl hat Lunte gerochen, er ist abgehauen«, sagte sie. Zufrieden fügte sie hinzu: »Gut, dass ich aufgepasst habe! Heutzutage muss man echt selbst auf alles achten. Die Polizei macht ja nichts.«
»Ja«, sagte ich zerstreut. »Das ist toll.«
Ich arbeitete mit Hochdruck an der Leseprobe für die nette Literaturagentin. Erwartungsvolle Aufregung hatte ich meiner bemächtigt, denn der erste und wichtigste Schritt auf dem Weg zum Bucherfolg war getan: Ein Agenturvertrag war zum Greifen nah! Wenn sie fünfzig Seiten haben wollten, würde ich eben fünfzig Seiten schreiben. Oder siebzig. Im Grunde war das keine Extra-Arbeit, denn der Roman musste ja so oder so geschrieben werden. Die Storyline stand inzwischen unumstößlich fest, ich hatte klar vor Augen, wie es weiterging:
Alicia wachsen die Probleme über den Kopf, vor allem, als der abgefeimte Bankräuber wieder auftaucht und einen Sprengsatz in ihrem Haus zündet, bei dem das Dach in Mitleidenschaft gezogen wird. Alicia ist nun erst recht in höchster Gefahr. Der Killer setzt sein tödliches Spiel fort – kann Alicia ihm gemeinsam mit Tom Anderson Einhalt gebieten?
Auch der Rest lief in meinem Kopf ab wie ein Film. Ich wusste nur noch nicht, wo Alicia und Tom ihr erstes richtiges Date haben sollten. Ich schwankte zwischen heißem Sex in seinem Büro oder noch heißerem Sex in seiner Wohnung. Bei Alicia zu Hause ging es nicht, wegen der Schäden, die bei der Explosion entstanden waren.
Timo tauchte im Wohnzimmer auf, er war kreidebleich.
»Mama, ich glaube, ich bin doch krank.«
»Was ist denn, mein Kleiner?« Sofort schob ich den Laptop weg und stand auf. »Soll ich schnell die Schüssel holen?«
Er schüttelte den Kopf und zeigte auf seinen Mund. »Ich glaube, ich habe Karius und Baktus.«
»Lass mal sehen.« Ich schaute es mir an und sah gerührt, dass einer seiner unteren Schneidezähne wackelte. »Das ist ganz normal. Die fallen dir jetzt alle nach und nach aus.«
Seine Unterlippe zitterte verdächtig. »Aber ich habe mir doch immer die Zähne geputzt!«
»Natürlich hast du das!«
»Ich will keine falschen Zähne! Oma Helga hat welche, sie tut sie abends immer in ein Glas auf meinem Nachttisch, das sieht gruselig aus!«
»Keine Sorge. Dir wachsen neue Zähne. Die, die dir jetzt ausgehen, sind Milchzähne. Hat man euch das denn nicht neulich erst im Kindergarten erklärt?«
»Ich weiß nicht. Sie haben gesagt, wenn man nicht richtig putzt, kommen Karius und Baktus und holen sich die Zähne.«
Du liebe Zeit, was für ein Horroszenario! Timos Zahn wackelte bestimmt schon länger, er war bereits ziemlich locker. Jetzt erinnerte ich mich auch wieder, dass er in der letzten Zeit beim Abbeißen immer sehr vorsichtig gewesen war und nach jeder Mahlzeit extra lange die Zähne geputzt hatte. Der arme Junge lebte vielleicht schon wochenlang mit der Angst vor den Zahnmonstern Karius und Baktus und hatte kein Wort gesagt! Ich erwog kurz, ihn darüber aufzuklären, dass Karius und Baktus nicht echter waren als das Christkind oder der Osterhase, aber das Problem war, dass er noch fest an all diese Gestalten glaubte. Ich liebte es, wenn Timo voller Inbrunst Wunschzettel für das Christkind malte oder mit mir und Spike im Garten Ostereier suchen ging. Er war im April sechs geworden und würde noch früh genug die Wahrheit herausfinden, lange würde es ohnehin nicht mehr dauern. Höchste Zeit, passend zum Anlass schnell noch die gute alte Zahnfee ins Spiel zu bringen, die konnte vielleicht noch ein paar Monate Boden gut machen und Karius und Baktus zeigen, wo der Hammer hing.
Ich drückte ihn fest an mich. »Du musst dich nicht fürchten! Das geht allen Vorschulkindern so! Es sind bestimmt noch andere in deiner Gruppe, bei denen Zähne wackeln.«
»Die Chantal hat auch Wackelzähne«, räumte er ein. »Und bei dem Jonas sind schon drei Stück ausgefallen. Aber der putzt auch nur ganz selten.«
»Mir sind auch alle Zähne ausgefallen, als ich so alt war wie du. Und deinen Geschwistern auch. Man kriegt gleich wieder neue.« Einschränkend fügte ich hinzu: »Allerdings nur einmal. Die müssen dann ein Leben lang halten.« Ich lächelte. »Mir haben damals gleich
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