Legend 02 - Schwelender Sturm (German Edition)
ganz konkret? Was hätten die Vereinigten Staaten dem Volk zu bieten, was Anden ihm nicht geben kann? Freiheit? Frieden? Wohlstand? Würde die Republik zu einem Land voll hübsch beleuchteter Wolkenkratzer und sauberer, wohlhabender Sektoren werden? Die Patrioten haben Day versprochen, seinen Bruder ausfindig zu machen und uns zur Flucht in die Kolonien zu helfen. Aber wenn Anden mit der richtigen Unterstützung und der nötigen Entschlossenheit all diese Dinge erreichen könnte – wenn wir gar nicht in die Kolonien fliehen müssten –, warum sollten wir ihn dann ermorden? Anden ist nicht im Entferntesten so wie sein Vater. Im Gegenteil, seine erste offizielle Amtshandlung besteht darin, etwas rückgängig zu machen, das sein Vater in die Wege geleitet hat: Er will Eden freilassen und vielleicht sogar die Seuchenexperimente stoppen. Wenn wir dafür sorgen, dass er an der Macht bleibt, könnte er die Republik dann nicht zu einem besseren Land machen? Wäre er dann nicht genau der Reformer, auf den Metias in seinen geheimen Tagebucheinträgen so sehr gehofft hat?
Aber es gibt noch ein größeres Problem, für das ich einfach keine Lösung finde. Razor muss wissen oder zumindest ahnen, dass Anden kein Diktator ist wie sein Vater. Schließlich ist Razor ein so hochrangiger Funktionär, dass ihm mit Sicherheit Gerüchte über Andens rebellische Veranlagung zu Ohren gekommen sind. Er hat Day und mir ja selbst erzählt, dass der Kongress mit Anden unzufrieden ist … aber nie erwähnt, worin genau die Meinungsverschiedenheiten bestehen.
Warum sollte er einen jungen Elektor ermorden wollen, der den Patrioten dabei helfen könnte, eine neue Republik zu gründen?
Inmitten all der Gedanken, die durch meinen Kopf wirbeln, bin ich mir einer Sache nun vollkommen sicher.
Ich weiß jetzt, wem meine Treue gilt. Ich werde Razor nicht dabei helfen, den Elektor zu ermorden. Und ich muss Day warnen, damit er den Plan der Patrioten nicht weiterverfolgt.
Ich muss ihm ein Zeichen geben.
Und mit einem Mal wird mir klar, wie es funktionieren könnte, vorausgesetzt, dass Day sich zusammen mit dem Rest der Patrioten das Videomaterial von mir ansieht. Er wird nicht verstehen, warum ich es tue, aber es ist besser als gar nichts.
Ich senke leicht den Kopf, hebe die Hand mit Days Büroklammerring und presse mir zwei Finger an die Augenbraue. Das Zeichen, auf das wir uns geeinigt haben, als wir in Vegas angekommen sind.
Stopp.
DAY
Später an diesem Abend mache ich mich auf den Weg zu den anderen in die Zentrale, um Genaueres über die nächste Phase unserer Mission zu erfahren. Razor ist wieder zurück.
Vier Patrioten arbeiten ohne aufzublicken in einer Ecke des Raums – Hacker, vermute ich, die die Installation der Lautsprecher auf einigen Gebäuden überprüfen. Nach und nach prägen sich mir die Gesichter hier ein: Einer der Hacker ist kahlköpfig und so wuchtig gebaut wie ein Panzer, wenn auch eher klein; ein weiterer hat eine riesige Nase zwischen halbmondförmigen Augen in einem auffallend schmalen Gesicht; dann sehe ich ein Mädchen mit nur einem Auge. Beinahe jeder hier ist von einer Narbe oder etwas Ähnlichem gezeichnet. Mein Blick wandert zu Razor, der gerade zu den Leuten spricht, die sich im vorderen Teil des Raums versammelt haben, während die Weltkarten auf den Bildschirmen hinter ihm seiner Silhouette einen leuchtenden Rahmen verleihen. Ich recke den Hals und halte nach Tess Ausschau, um sie kurz beiseitezunehmen und mich bei ihr zu entschuldigen. Als ich sie schließlich entdecke, steht sie jedoch mit ein paar anderen Sanitätsschülern zusammen, denen sie gerade irgendein grünes Kraut in ihrer Handfläche präsentiert und geduldig dessen Anwendung erklärt. Zumindest sieht es danach aus. Ich beschließe, meine Entschuldigung auf später zu verschieben. Im Moment wirkt sie nicht, als bräuchte sie mich. Der Gedanke macht mich seltsam traurig und erfüllt mich mit Unbehagen.
»Day!« Nun hat auch Tess mich gesehen. Ich winke ihr kurz zu.
Sie bahnt sich einen Weg zu mir und zieht zwei Pillen und eine kleine, saubere Rolle Verband aus ihrer Tasche. Sie drückt mir die Sachen in die Hand. »Pass auf dich auf heute Nacht, okay?«, sagt sie etwas atemlos und blickt mir fest in die Augen. Von der vorherigen Anspannung zwischen uns ist nichts mehr zu spüren. »Ich weiß ja, wie du sein kannst, wenn du unter Adrenalin stehst. Mach einfach nichts zu Verrücktes.« Tess deutet mit dem Kinn auf die blauen Pillen in meiner
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