Legende der Angst
sich am rechten oder linken Arm verletzt hatte. Sie fragte sich, ob er noch wußte, welcher es gewesen war.
»Es geht schon viel besser«, antwortete er.
»Hast du einen Verband darum?«
»Ja.«
»Tut es weh?« wollte sie wissen.
»Nein.« Er stand unvermittelt auf. »Laß uns gehen.«
»Wohin?«
»Zum See, schwimmen.«
»Ist es denn gut für dich, mit deiner Verletzung schwimmen zu gehen?«
»Das ist mir egal«, erwiderte er.
Sie fühlte Angst in sich aufsteigen. »Das Wasser ist kalt.«
Er hielt ihr eine Hand hin. »Dir wird warm sein, wenn wir unten sind.«
Sie schwitzte, als sie wieder beim Haus ihres Großvaters angelangt waren. Sie hatte keine Ahnung, was als nächstes auf sie zukommen würde. Jemand, der möglicherweise KAtuu war, hatte sie gefragt, ob sie mit ihm im See des Blutes schwimmen gehen wollte. Sicher, den ganzen Sommer über schwammen Menschen im See, und keiner von ihnen fiel danach über seine Nachbarn her. Sie fragte sich, ob sie, wenn sie einmal dreißig war und an diese Tage zurückdachte, vielleicht im Zweifel darüber sein würde, ob sie damals nun Drogen genommen hatte oder nicht. Ganz sicher hatte sie ihren gesunden Menschenverstand längst über Bord geworfen. Sie war nahe daran, an die Existenz von Monstern zu glauben, und zur gleichen Zeit wollte sie mit einem von ihnen schlafen.
Jim küßte sie in dem Moment, als sie das Haus betrat.
Und er schien nicht mehr damit aufhören zu wollen.
Es war besser als in der vorangegangenen Nacht. Er war besser. Er war ein Berg männliches Fleisch, das sie ganz einzuhüllen schien. Das ist cool, dachte sie. Wenn er mit ihr fertig war, konnte er sie gern verspeisen. Solange sie ihm nur dabei zusehen durfte. Er ließ seine Hände vorne über ihre Bluse gleiten, und Angela stöhnte vor Entzücken und vor Schmerz.
Noch nie zuvor war ihr bewußt gewesen, wie nah diese Dinge beieinander liegen konnten. Sie wollte Jim so sehr, daß es weh tat.
Er geleitete sie weiter ins Innere des Hauses. Hoch zu ihrem Schlafzimmer. Aber dort blieben sie auch nicht – mehr als schade, dachte sie. Er öffnete die Tür zum Balkon. Plastic sah von dem abgenagten Knochen ihres Steaks auf und verzog sich ins Haus. Jim ging nach draußen und ließ den Blick über den See schweifen. Es war sogar noch wärmer als in der Nacht zuvor und dazu totenstill.
»Laß uns schwimmen gehen«, sagte er.
Hast du denn nicht Lust, dich auf andere Weise körperlich zu betätigen?
»Wie tief ist der See?« fragte sie laut.
»Tiefer, als du dir vorstellen kannst.« Er zog sein Hemd aus. Jim war gebaut wie Herkules. Seinen rechten Arm zierte ein Verband. Ein schwaches Lächeln spielte um seine Lippen – das erste Mal an diesem Abend –, als ihr Blick zu der weißen Mullbinde wanderte. »Ist dir immer noch kalt?« wollte er wissen.
Sie zögerte. »Nein.«
Er machte sich daran, sich seiner Hose zu entledigen. »Kannst du schwimmen?«
»Ich kann schwimmen«, antwortete sie. Sie dachte an das Amulett an der Kette um ihren Hals. Sie wollte nicht, daß er es sah. »Aber ich muß zuerst kurz ins Bad.«
»Dann geh.« Er war so gut wie nackt.
Sie eilte ins Bad und legte die kopflose Fledermaus ab. Sie hatte keine Ahnung, was das Amulett symbolisieren sollte; die KAtuu waren ganz sicher keine Fledermäuse. Eher waren sie fremdartige Monster. Sie versteckte das Amulett im Medizinschränkchen.
Von draußen hörte sie ein lautes Platschen. Jim war also schon ins Wasser gesprungen. Das war ihre Chance. Sie konnte nach draußen zu ihrem Wagen rennen und davonbrausen. Sie konnte zu Kevin fahren, sich mit ihm vor den Fernseher kuscheln, sich ein Horrorvideo ansehen und dabei Popcorn essen, eben einen netten, normalen ungefährlichen Samstagabend verbringen. Aber etwas hinderte sie daran: Sie war ganz einfach heiß wie die Hölle! Und wer glaubte zudem schon ernsthaft an Monster? Und selbst wenn eine böse Macht am Werk war, konnte sie nicht einfach wegrennen und so tun, als wäre nichts.
»Was soll ich bloß tun? Du sagst mir, daß Jim ein lebender Toter ist, der frei herumläuft, und ich soll mich gelassen zurücklehnen und darauf warten, daß er jemanden umbringt? Du solltest froh sein, daß ich mit ihm ausgegangen bin. So kann ich ihn weiter für dich im Auge behalten.«
Dies hatte sie wütend zurückgebrüllt, als Mary sie angeschrien hatte, und sie stand immer noch zu ihren Worten. Sie mußte Jim ganz aus der Nähe betrachten, um sehen zu können, was er war. Das war der einzige
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