Legenden d. Albae (epub)
geschlossen, ohne dass es zu einer Entzündung gekommen war; die leeren Höhlen pochten, brannten und juckten dennoch. Im Vergleich zur Heilkunst der Menschen war es fast ein Wunder, wie schnell sich die Verletzung besserte. Bei ihren Leuten wäre sie sicherlich daran gestorben.
Bei deinen Leuten wärst du jedoch nicht geblendet worden,
sagte eine leise, rebellische Stimme in Raleeha.
Bei deinen Leuten wärst du auch keine Sklavin, sondern das genaue Gegenteil.
Ab und zu meldete sich diese feine Stimme zu Wort, ohne dass Raleeha etwas dagegen zu tun vermochte. Heute war sie nicht einmal abgeneigt, ihr zu lauschen.
Sie fand das Gefäß, führte es hastig an die Lippen und leerte es in einem Zug, dann lehnte sie sich zurück. Sie saß in der Gesindestube, gleich neben der Küche, und es roch nach Essen. Außer ihr und Kaila gab es zehn Menschensklaven und vier junge Albae, die in der Anstellung als Dienstboten Lebenserfahrung sammelten. Sie wurden ständig ausgetauscht, damit sie als Heranwachsende möglichst viel Unterschiedliches zu sehen bekamen. Raleeha merkte sich ihre Namen nicht und redete sie immer nur mit »junge Herren« an.
Sie hörte die Sklaven und Dienstboten sprechen, unterschied die groben von den feinen Stimmen, vernahm das Klappern von Geschirr und das leise Prasseln des Feuers, das eben geschürtwurde. Sie konnte sich vorstellen, wo sie saßen, was gerade geschah: Die jungen Herren bereiteten das Essen für Sinthoras zu, Kaila kochte an einem getrennten Herd das Mahl für die Sklaven. Die Gerüche der feinen Speisen und der einfachen, dicken Suppe mischten sich. Raleeha sah die Küche im Geiste genau vor sich, sah, wie Kaila rührte und schwitzte, wie ihr die Frauen beim Schnippeln halfen, einer der Männer Holzscheite nachlegte.
Sie erinnerte sich auch an die befremdeten, unverständigen Blicke, die sie immer wieder von Kaila und den anderen aufgefangen hatte. Weil sie freiwillig in die Sklaverei gegangen war und die Albae als höhere Wesen betrachtete, ihre Zeichenkunst erlernen wollte und sich nichts mehr wünschte, als ihnen nahe zu sein. Vor allem einem.
Aber sehen würde Raleeha nichts mehr von alledem. Nicht einmal mehr das Antlitz ihres Gebieters.
Dieser Gedanke, der sie unentwegt anfiel, machte sie traurig, und sie rang mit den Tränen. Sie wollte nicht weinen, denn das Salz brannte in den frischen Wunden und schwemmte die Heilsalbe aus.
Raleeha spürte einen Luftzug, dann raschelte Stoff, und ein Stuhl knarrte. »Hast du gehört, dass deine Familie dabei ist, zu den Mächtigsten im Norden von Ishím Voróo zu werden?«, plapperte Wirian aufgeregt. Die junge Sklavin roch nach Bratfett, und Raleeha wunderte sich, wie eindringlich Düfte für sie waren, seit sie nichts mehr sah. »Man erzählt sich, dass Farron Lotor einen weiteren Sieg gegen einen der kleineren Barbarenfürsten errang.«
»
Wer
erzählt sich das?«
»Der Sklave von Esmintaïn hat es mir auf dem Markt berichtet. Sein Herr gehört zu einem Zirkel von Albae, die sich regelmäßig zusammensetzen und die Lage um Dsôn Faïmon besprechen.« Raleeha fühlte eine Berührung an der Schulter. »Freutdich das überhaupt nicht? Und stimmt es, dass ihr alle so groß seid?«
Sie schwieg. In Wirians Worten lag die kaum verhohlene Andeutung, dass sie die Sklaverei ohne Widrigkeiten verlassen könnte, wenn ihr Bruder erst mächtig genug wäre. Zwar lauschte sie der rebellischen Stimme in ihrem Innern seit einigen Tagen mehr als sonst, doch in ihrem Herzen wusste sie, dass sie nicht gehen würde, selbst wenn ihre Familie die Möglichkeit besäße, das Reich der Albae zur Herausgabe sämtlicher Lotor-Geiseln und -Gefangenen zu zwingen.
Raleeha hing ihren Erinnerungen nach, beschwor die alten Eindrücke und Bilder herauf. Von ihrem ersten Zusammentreffen mit Sinthoras an der Staffelei. Vom Anblick der Hauptstadt Dsôn, in die er sie geführt hatte.
Sie hatte so vieles über die Kultur der Albae gelernt und begriffen, warum sie so waren: anders.
Albae dachten auf geistigen Ebenen, in welche der unvollkommene menschliche Verstand niemals vordrang. Durch die Gnade ihres Gebieters durfte sie zu einem Teil der Welt gehören, der besser war als der Rest von Ishím Voróo. So hatte sie es sich immer schon gewünscht.
Was sollte sie in den kargen Hütten, in den zugigen Burgen oder in den Nomadenzelten ihrer Familie schon anfangen? In den Wintern fror sie, im Herbst waren die Kleider stets klamm und feucht, im Frühjahr fielen die Mücken
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