Legionen des Todes: Roman
gründlich sie die Blätter abwuschen oder kochten, der Beigeschmack des Todes würde an ihnen haften bleiben. Vielleicht war es nur Einbildung, aber Evelyn wusste, dass sie nicht einen einzigen Bissen davon in ihren Mund bringen konnte, ohne dabei an das leere, zwinkernde Pferdeauge zu denken, ohne das brennende Fleisch zu riechen oder den Gestank der Verwesung im Wasser darum herum. Gott sei Dank hatten sie vor kurzem erst geerntet und mehrere hundert Blätter in der Höhle zum Trocknen aufgehängt und dann eingewickelt. Doch wie lange würden sie reichen? Nun, es spielte keine Rolle mehr. Es war an der Zeit, ihre Wanderung nach Osten zu beginnen, so wie sie es alle gewusst und sich die ganze Zeit davor gefürchtet hatten. Sie waren gezwungen, alles aufzugeben, wofür sie so lange und hart gearbeitet hatten, den einzigen Ort zu verlassen, an dem sie sich in der letzten Zeit zumindest ein bisschen sicher gefühlt hatten.
Warum mussten sie eigentlich von hier fortgehen? Evelyn sah keinen Sinn darin, aufs Geratewohl nach Osten zu ziehen, um auf halbem Weg ihrem eigenen Tod zu begegnen. Konnten sie nicht einfach bleiben, wo sie waren, und warten, bis der Schlächter zu ihnen kam? Es widersprach Evelyns ureigener Natur – was in aller Welt sollte es ihnen nützen, wenn sie ihren Heimvorteil aufgaben? Hier hatten sie die Möglichkeit, zumindest die Verteidigungsanlagen wiederaufzubauen, die ihnen bei dem Angriff des Schwarms so gute Dienste geleistet hatten. So wie sie es sah, konnten sie den Rest ihres Lebens in dieser Höhle verbringen. Sich mit nichts weiter als dem, was sie tragen konnten, hinaus ins Unbekannte zu wagen war reiner Selbstmord. Sie wussten nicht einmal, was sie dort erwartete, wie viele Fallen und welcher Art. Sie hatte es satt, ständig nur auf irgendwelche Visionen zu vertrauen, sich blindlings auf die Kraft zu verlassen, die die anderen ihren Träumen zuschrieben. Vielleicht wäre es ihr leichter gefallen, daran zu glauben, wenn sie die Visionen gehabt hätte. Warum bekam sie nicht auch einmal von irgendwoher ein Zeichen?
Evelyn lachte. Ein Strand voll verrottender Kadaver dürfte wohl Zeichen genug sein, dachte sie.
Letztlich lief alles auf nichts anderes hinaus als Angst. Sie war starr vor Angst. Sie hatte Angst, aufzubrechen, und Angst, zu bleiben. Angst vor einem anscheinend übermächtigen Gegner, dem sie weder ein Gesicht noch einen Namen geben konnte. Als sie in Mormon Tears angekommen waren, hatte Phoenix so sicher gewirkt, als wäre er in der Lage gewesen, in die Zukunft zu sehen, und hätte gewusst, dass alles gut werden würde. Doch jetzt … jetzt schien er genauso verängstigt wie alle anderen. Manchmal sogar noch mehr. Und Evelyn betete, dass er doch nicht in die Zukunft sehen konnte, denn falls seine veränderte Ausstrahlung ein verlässlicher Indikator war, stand ihnen allen der sichere Tod bevor.
Ein Schauder lief über ihren Rücken und breitete sich bis über die Arme aus, die Evelyn sogleich um ihren Oberkörper schlang, und sich die Schultern rieb, um das beunruhigende Gefühl zu vertreiben.
Noch einmal warf sie einen Blick auf das Seetangbeet, die Erfüllung ihres professionellen Traums, den Beweis ihrer Theorie, dass die Ozeane durch Unterwasserfarmen gerettet werden könnten, und fragte sich, ob sie die Pflanzen wohl zum letzten Mal sah. Evelyn hatte so viel von sich selbst in diese Pflanzen investiert. Sie im Stich zu lassen, das war so, als ob sie ein Stück ihrer selbst aufgeben würde.
Sie ging in die Hocke und berührte eines der Blätter, das aus dem Wasser ragte – eine unbewusste Geste, eine Art, auf Wiedersehen zu sagen. Ihre Fingerspitzen hatten das Blatt kaum berührt, da begannen die Adern unter der dicken Pflanzenhaut blässlichgrün zu leuchten, als würden sie zu neuem Leben erwachen. Keuchend taumelte Evelyn einen Schritt zurück, ihr linker Fuß rutschte ab und hinab ins Wasser und den darunterliegenden Sand. Das Leuchten verschwand sofort wieder, doch Evelyn war sicher, dass sie gesehen hatte, wie das Blatt sich versteift hatte, als wäre es unter Strom gesetzt worden. Und war es nicht auch … ein Stück gewachsen?
»Wir müssen los«, hörte Evelyn Adams Stimme von hinten und zuckte unwillkürlich zusammen. Beinahe wäre sie kopfüber in den See gefallen.
Sie wirbelte herum und starrte Adam an, ihr Gesicht kreidebleich, die Augen weit aufgerissen.
»Was ist denn los?«, fragte Adam.
»Nichts«, erwiderte Evelyn, kletterte aus dem Wasser und
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