Lehmann, Christine
Wimpernbürste hinweg an. »Ich bin eh zu fett.«
Cipión brachte Tobi in die Küche. Die Hose hatte der Junge an, allerdings falsch herum, mit dem Reißve r schluss hinten.
Katarina stöhnte. »Du bist wirklich selten blöd! Zieh die Hose wieder aus! Ausziehen! Hörst du schlecht?«
Tobi verzog das Gesicht.
»So geht das nicht, Katarina«, bemerkte ich.
»Scheiße, ich weiß!« Braune Augen blitzten mich an. »Das brauchen Sie mir nicht zu sagen! Was kann ich d a für, wenn Mama den Wecker nicht hört? Und ich muss jetzt hier fertig machen, verdammt!«
»Stell dir selber einen Wecker!«
»Ich hab keinen.«
»Dann kauf dir einen.«
»Ich habe kein Geld.«
»Katarina! Was willst du? Andern die Schuld geben oder selber handeln?«
Der Übergang von Vernunft zum Jähzorn war blit z kurz. Die Dreizehnjährige schleuderte das Schmin k mäppchen durch die Küche und kreischte: »Warum la s sen Sie uns nicht einfach in Ruhe? Ja?«
Stifte, Döschen und Tuben spratzelten durch die K ü che, klongten in die Spüle, klackerten hinter den Küh l schrank, kullerten über den PVC-Boden. Ich erwog, die gekränkte Helfersseele zu geben und beleidigt abzuzi e hen, natürlich nicht ohne düstere Drohungen mit dem Jugendamt, verwarf es aber. Allerdings auch nicht ohne Drohung: »Tobi muss regelmäßig in den Kindergarten. Wenn ihr das nicht hinkriegt, ist er weg.«
»Dann ist er halt weg! Verdammte Scheiße! Was kann ich denn dafür? Vielleicht begreift Mama es dann en d lich!«
»Wenn sie Tobi erst mal haben, seht ihr ihn nicht so schnell wieder. Ist dir das klar?«
»Ja und!«, brüllte das Mädchen und sprang auf. »Was kann ich dafür? He? Was kann ich denn da machen? Ich habe auch ein Leben!«
»Katarina, du solltest dringend was gegen deine Zor ne s ausbrüche unternehmen. Sonst hast du bald ein sch ö nes Leben im Knast.«
Das beruhigte sie urplötzlich. »Es klappt doch norm a lerweise«, schwindelte sie. »Heute ist echt eine Ausna h me! Ich schwör!«
»Okay. Wer bringt Tobi in den Kindergarten?«
»Ich nehme ihn mit. Das liegt auf dem Weg.«
»Wohin?«
»Ich gehe ins Ostheim.«
Das war eine Grund- und Gesamtschule knapp zehn Minuten zu Fuß von der Neckarstraße entfernt.
»Tobi?«, rief Katarina, sich umwendend. »Wir müssen los! Komm!«
In diesem Moment erschien die Mutter. Sie trug einen Bademantel über dem Nachthemd und hatte sich die Haare gekämmt. Ihr »Guten Morgen« klang nicht wir k lich erfreut und ihr Versuch, die mütterliche Regie zu übe r nehmen, wirkte ungeübt. »Katarina, ihr müsst los! Ihr kommt zu spät«
»Tobi stellt sich wieder mal an wie ein Mongo!«, blaffte Katarina ihre Mutter an. »Wo ist seine Jacke?«
»In der Wäsche.«
Katarina stöhnte. »Es ist kalt, Mama!«
Der Junge stand in der Küchentür und kratze sich die verschorften Arme.
Katarina zwängte sich an mir vorbei, ging hinter dem Küchentisch in die Hocke, riss die Klappe der Waschm a schine auf und begann, Klamotten herauszuzerren, Jeans, Pullover, Shirts, bis sie eine grüne Jacke mit Kapuze g e funden hatte, die ziemlich verdreckt war.
»Komm her, Tobi!«
Tobias rümpfte die Nase. »Das stinkt. Das zieh ich nicht an!«
»Ihr stinkt eh alle!«
»Ich will aber nicht stinken!«, kreischte nun Tobi los und trat nach Katarinas Hand.
»Au!«, rief das Mädchen und versetzte dem Jungen eine Ohrfeige.
Tobi schrie und fing an zu heulen.
Cipión stellte besorgt die Ohren und sträubte den Schnauzbart.
»Hört auf zu streiten!«, rief die Mutter schwach. »K a tarina, du sollst Tobi nicht schlagen. Das habe ich dir schon hundertmal gesagt.«
»Du kannst mich mal!«, schnappte das Mädchen. »Wenn du die Wäsche mal waschen würdest, dann hätte Tobi was zum Anziehen! Und ich auch! Außerdem bra u che ich fünf Euro!« Ihr Ton wurde übergangslos freun d lich bettelnd. »Fürs Werken. Das habe ich dir doch e r zählt.«
Die Mutter warf mir einen kurzen Blick zu und ging den Geldbeutel holen. Ich ahnte, dass sie es in meiner Gegenwart nicht auf ein Gezerfe ankommen lassen wol l te. Und Katarina nutzte meine Anwesenheit, um ohne G e schrei an Geld zu kommen. Einzeln zählte Mutter Habe r geiß ihrer Tochter die Euromünzen in die Hand. »Und kauf Tobi was zum Frühstück beim Bäcker. Und jetzt marsch! Ihr kommt zu spät!«
Halbwegs befriedet zog Katarina ihrem Bruder die Ja cke an und schubste ihn zur Wohnungstür hinaus. »Danke noch mal«, sagte sie, sich kurz zu mir umdr e hend. Dann fiel die Tür ins
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