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Lehmann, Christine

Lehmann, Christine

Titel: Lehmann, Christine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mit Teufelsg'walt
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sagen? Ab wann geht das Daheim auf einen selber über?«
    »Ach so!« Sie kicherte. »Des moinet Sie. Also bei uns daheim hemmer ufg’hört, von den Eltern daheim zum sage, wo i selber Kinder g’het hen.«
    Also würde ich »heim« fahren, bis meine Mutter tot war.
    Ich räumte meinen Kühlschrank ein und setzte mich an den Computer. Der geweckte Bildschirm präsentierte mir die Seite, die ich gestern Nacht hatte stehen lassen. Das siebzehnjährige Mädchen erkundigte sich unter »Wer weiß was?«, ob es für sie auch eine Möglichkeit gab, ihr Kind wegzugeben, ohne dass es in der Anonym i tät einer Adoption verschwand.
    »Was sagt denn der Vater dazu?«, hatte ein Komme n tator darunter geschrieben. Tja, die Väter.
    Im Netz hatte ein Türke Spuren hinterlassen, der seit acht Jahren um seine Tochter kämpfte, die von der Mu t ter zur Adoption freigegeben worden war. Bis zum Eur o päischen Gerichtshof für Menschenrechte hatte der Vater sich geklagt. Der hatte die Praktiken des Jugendamts und die Bundesrepublik Deutschland verurteilt, doch das Kind hatte der Türke nicht bekommen. Das Jugendamt Wittenberg lehnte alles ab, selbst den Vorschlag des Bundesverfassungsgerichts, ihm das Sorgerecht zu übe r tragen. Inzwischen waren irgendwelche Richter eines Oberlandesgerichts wegen Rechtsbeugung angeklagt. Ende offen.
    Jeden Tag wurden in Deutschland 80 Kinder ihren Müttern, Vätern oder Eltern weggenommen, unter Obhut des Jugendamts gestellt und in Heime und Pflegefamilien verteilt. Ungefähr 190000 Kinder lebten derzeit kraft amtlicher Gewalt von ihren Eltern getrennt. Zum Ve r gleich: In deutschen Gefängnissen saßen etwa 73 000 Schwerverbrecher ein. Und die h ä tten sich durch alle I n stanzen klagen können, wenn sie gewollt hatten. Und selbst im Gefängnis hatten sie verbriefte Rechte. Doch wer schaute nach den Kindern, die in Heimen und Fremdfamilien landeten? Wer außer dem Jugendamt, das sie selbst dorthin expediert hatte? Worum ging es da wirklich? Ums Kindeswohl? Um Hilfe?
    Der Glaube, zu den Guten zu gehören, war ein starker Blindheitsfaktor für Gewalt und Unrecht. Aber wieso funktionierte es so still und reibungslos, so gut?
    Wo waren die Gewinner? Wer verdiente daran?
    Ich rief bei Ruth Laukin vom Stuttgarter Anzeiger an. Sie war unter anderem für die Sonntagsbeilagen zustä n dig. »Ich hätte ein Thema«, sagte ich und erzählte ihr von Nina Habergeiß und Tobias. »Die Selbstherrlichkeit des Jugendamts ist ein Skandal! Da sollte man mal was dr ü ber machen.«
    Ruth war nicht überzeugt. »Wenn man bei diesen G e schichten genauer hinguckt, dann stellt sich meistens he r aus, dass bei solchen Familien einiges im Argen liegt. Ich kenne eine Mitarbeiterin des Jugendamts. Und was die so erzählt …«
    »Schon verstanden«, sagte ich. »Wenn wir dem J u gendamt vorwerfen, es nehme zu viele Kinder in Obhut, kriegen wir ein Problem beim nächsten Kindsmord, den das Jugendamt nicht verhindert hat.«
    Ruth druckste. »Musst du das wieder so auf den Punkt bringen, Lisa?«
    Wir verblieben so, dass ich wieder anrufen sollte, wenn ich Habhafteres hätte. Ich holte Senta, die alter s schwache Schäferhündin, aus Sallys Wohnung in der U r banstraße und ging die Stöckachstraße entlang zur Hauptpforte des SWR. Als ich am Sender ankam, war mir warm, Cipión hechelte und Senta hing die Zunge fast bis auf die ergraute Brust. Sally wartete auf dem Hof und rauchte.
    »Ich dachte schon, du hast es wieder vergessen.«
    Wir drehten mit den Hunden unsere Runde durch den nasskalten Park der Villa Berg, und ich berichtete von dem Drama des Vormittags, dem Anruf meiner Mutter. »Und ich Lellebebbel habe ihr versprochen, sie am Wo chenende zu besuchen!«
    Der riesige Krater der Baustelle am Funkhaus intere s sierte Sally mehr. Ihr zukünftiger Arbeitsplatz. Neben den drei blauen Türmen des Architekten Gudbrot en t stand ein neues Redaktionshaus ohne anthroposoph i schen Sichtbeton.
    Um halb zwei lieferte ich Sally an der Pforte ab, rauc h te mit ihr zusammen noch eine Zigarette und zog mit Senta und Cipión heimwärts; Als ich am Fußgänge r überweg Hackstraße angekommen war und das einstige Telegrafenamt, heute Staatsanwaltschaft, und den Hoc h bahnsteig am Stöckach vor Augen hatte, klingelte mein Handy. Das Display zeigte Richards ID.
    »Hast du heute Nachmittag schon was vor?«, fragte er.
    »Jede Menge!«
    »Was denn?« Richards Geringschätzung meiner jou r nalistischen Pflichten war unerschütterlich.
    »Ich

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