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Lehmann, Christine

Lehmann, Christine

Titel: Lehmann, Christine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mit Teufelsg'walt
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zwar mit Kniefall! Klar?«
    Sie kniff die Lippen zusammen.
    Ich drehte mich um, schlug die Tür hinter mir zu, trampelte die Holztreppe hinunter zu meiner Wohnung und hakte das Thema Tobias ab. Nur gut, dass Nina H a bergeiß mich nicht tatsächlich um Hilfe gebeten hatte: Kinder hüten, Katarina Nachhilfe geben, mit Tobias auf den Abenteuerspielplatz gehen, mir Schicksal und Kl a gen anhören, der Mutter Bewerbungen schreiben helfen und die Flasche wegnehmen. Womöglich war es für To bias wirklich besser, wenn er in eine neue Familie kam.
    Nein! Niemals! Mein ganzer Organismus sirrte vor Protest. Ein uraltes, urtümliches Gefühl von Angst jagte durch meinen Leib. Stell dir vor, man hätte dich mit fünf Jahren deinen Eltern entrissen, der bigotten Mutter mit der effizienten Ohrfeigenhand, dem Vater, der sich nie für dich interessiert hat. Von jetzt auf nachher hätte ich sie verloren. Wie im Krieg – ausgebombt. Kein A b schied, kein Andenken. Stattdessen neue Eltern, plötzlich Geschwister, Neid, Eifersucht, neue Regeln, andere Str a fen, fremde Körper, die meinen an sich drückten. Brrr! Ekelhaft.
    Ich goss einen Becher heißen Kaffee in mich hinein, legte mich wieder ins Bett und schlief, bis ein Anruf meiner Mutter mich weckte.
    Ob ich zu Weihnachten käme.
    »Muss das sein?«
    »Es könnte unser letztes Weihnachtsfest sein.«
    »Das hast du letztes Jahr auch behauptet. Ich habe a l les abgesagt, bin zu dir rausgefahren und mit durch die Christmetten gezogen. Und was ist?«
    »Willst du dich darüber beklagen, dass ich noch l e be?«
    »Nein, Mama. Ich besuche dich gern …« Das war eine Lüge. »Aber nicht wieder zu Weihnachten.«
    »Deiner Mutter wirst du doch wohl einen Herzen s wunsch erfüllen können. Vielleicht den letzten!«
    »Mama! Geht es nicht auch ein bisschen weniger dr a matisch? Ich komme am Wochenende. Okay?«
    »Ich werde Apfelkuchen backen. Den magst du doch!«
    Schnell ja gesagt und den Hörer aufgelegt. Ich rechn e te. Noch drei Tage Gnadenfrist. Der matschige und saure Apfelkuchen meiner Mutter gehörte zu den unvermei d baren Prüfungen der Tochterliebe.
    Ich duschte.
     
    In der Neckarstraße nebelte ein kalter Dezembermorgen. Auf dem Hochbahnsteig der Stadtbahn fröstelten Ren t ner, Kopftuchtürkinnen und sehr verspätete Schüleri n nen, die ihre letzte Zigarette rauchten. Einkaufen sollte ich auch noch! Bei Flimse stapelten sich Stiefel im Wüh l korb. Alles billig. Die Scheiben des Schnellbacks waren b e schlagen, so dampften drinnen Menschen, Ka f fee und Brötchen. Im Bioladen raffte ich warme Socken, Datteln, Dinkelkekse, V o llkornnudeln , Sonnenblume n kerne und andere Dinge, die ein Mensch nicht brauchte, in den W a gen. An der Theke für süße Stückchen stand Staatsanwä l tin Meisner und suchte sich einen Diätunte r brecher für die Mittagspause aus.
    »Ich muss gleich in die Sitzung«, erklärte sie, was im Juristenjargon Gerichtsverhandlung hieß.
    Wieder auf der Straße stieß ich fast mit der Kopftuc h türkin zusammen, die unter mir wohnte. Sie erwiderte meinen Gruß nicht. An ihrer Seite ging ein vielleicht zehnjähriges Mädchen, das mich mit großen oriental i schen Augen anschaute und lächelte. Ich folgte ihnen mit meinen Tüten und fragte mich, ob das Mädchen nicht eigentlich in der Schule sein musste. Im Hausflur blo ckie r te Oma Scheible die Briefkästen, konnte aber die türk i sche Mutter und ihre Tochter kaum aufhalten. Sie eilten in langen Mänteln die steinerne Treppe hinauf, die nur bis zum Hochparterre reichte. Danach ging es hö l zern weiter.
    »Fahret Sie Weihnachten wieder heim?«, erkundigte sich Oma Scheible. Sie plante gern beizeiten das Leben anderer Leute.
    »Wohin?«
    »Heim zu Ihrer Mutter!«
    Ach so! Ich tappte jedes Mal in die Falle. »Nein.«
    »Solltet Sie aber. Wer weiß, wie lang’s noch hebt. E r s c ht grad isch die Frau von meinem Neffe g’schtorbe. Die war noch koine sechzig. Vor vier Jahren isch’s lo s gange mit dem Bruschtkrebs. Und kaum ging’s dere oin Tag gut, musste sie scho wieder zur Chemo.«
    »Und Ihnen geht’s gut?«, fragte ich. Oma Scheible war im letzten Jahr krummer und ihre Augen waren far b loser geworden. Von der Aktion gestern früh bei den H a bergeiß hatte sie offenbar nichts mitbekommen. Das machte mir Sorgen. »Fahren Sie heim an Weihnachten?«
    »Was? Wohin soll ich?«
    »Heim, Frau Scheible.«
    »Und wo soll des sein?«
    Ich grinste sie an. »Sie mit Ihrer Lebenserfahrung, was würden Sie

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