Lehmann, Christine
muss am Wochenende meine Mutter besuchen«, erklärte ich.
Ich hörte ihn lächeln. »Dann hast du also Zeit für e i nen Spaziergang. Pass auf …« Jemand quatschte ihm dazw i schen, und ich hörte, wie er sich formell von einem Herrn Pächter verabschiedete. Dann war er wieder in meinem Ohr. »Ich komme gerade aus der Sitzung und bin auf dem Weg zum Wagen. Sonja Depper hat ang e ru fen. Wir … wir müssen sie abholen.«
»Wir?«
»Sie hat sich verlaufen, sagt sie.«
»Wie, verlaufen?«
»Im Wald.«
»Dann sag ihr: Immer geradeaus laufen, nach ein bis zwei Tagen stößt sie wieder auf Zivilisation und kann sich ein Taxi rufen.«
»Ich weiß, Lisa«, seufzte Richard. »Aber anscheinend gibt es da ein Problem. Sie habe eine furchtbare Dum m heit gemacht, hat sie gesagt.«
»Was für eine Dummheit?«
»Das wollte sie mir am Telefon nicht sagen.«
»Und wo befindet sie sich genau?«
»Das konnte sie mir auch nicht sagen.«
Wobei wir wieder am Anfang waren. »Silberwald, Schönbuch, Feuerbacher Tal«, schlug ich vor. »Stuttgart zwischen Wald und Reben.«
»Ach so! Nein.«
»Was denn nun?«
»Sie sei auf dem Weg zu den Bärenseen.«
»Dann sollten wir unbedingt die Bergwacht rufen und Lawinenhunde!«
Das Handy knisterte einen Moment und die Fußgä n gerampel wurde grün.
»Du musst doch sowieso mit Cipión raus«, argume n tierte Richard.
»Ich bin gerade auf dem Rückweg.«
»Die kurze Runde mit Sally?«
»Himmel, Richard! Warum willst du denn unbedingt Cipión und mich dabeihaben, wenn du dich mit Sonja Depper im Wald triffst?«
»Genau deshalb! Lisa.«
Ich musste lachen. »Fürchtest du, dass sie dich ve r führt und hinterher der sexuellen Nötigung bezichtigt?«
Er lachte nicht.
»Aber ich muss erst Senta zurückbringen. Sagen wir, in einer Viertelstunde an der Ausfahrt der Staatsanwal t schaft?«
Eigentlich wollte ich mir dann für die Waldwanderung noch schnell festeres Schuhwerk anziehen, aber Katarina fing mich auf der Treppe ab. Die Wimpertusche war ve r schmiert, sie keuchte und schrie: »Sie haben Tobi mitg e nommen! Ich bring sie um!«
»Langsam!«
»Sie haben ihn aus dem Kindergarten geholt. Vor me i nen Augen. Ich kam gerade, um ihn abzuholen. Ich habe nicht mal mehr mit ihm reden dürfen!«
»Wer hat ihn abgeholt?«
»Sie hatten zwei Polizisten dabei.«
»Wer?«
»Die vom Jugendamt. Mann, wovon rede ich denn die ganze Zeit? Und sie wollten mir nicht sagen, wohin sie ihn bringen. Aber er hat doch gar nicht seine S a chen! Wie soll er denn einschlafen ohne seinen P u schel?«
Tränen liefen dem Mädchen übers Gesicht.
»Ihr braucht einen Anwalt«, sagte ich.
In Katarinas Augen trat kindliches Vertrauen. Sie war erst dreizehn Jahre alt, ein Teenager in den inneren Wi r ren der Pubertät, ständig in Gefahr, Opfer von Gefühl s umschwüngen zu werden und auszurasten. »Und wann kriegen wir Tobi dann wieder?«
»Erst einmal muss euch das Jugendamt mitteilen, und zwar heute noch, dass es Tobias in Obhut genommen hat. Ihr legt Widerspruch ein, und es gibt eine Gerichtsve r handlung. Dafür braucht ihr den Anwalt.«
»Und Tobi? Wann können wir ihn besuchen?«
Vermu tl ich gar nicht, aber das mochte ich nicht sagen.
»Er braucht doch seine Sachen, den Puschel, die Salbe gegen Neurodermitis und so was.«
»Wie hat es deine Mutter aufgenommen?«, fragte ich, um abzulenken.
Katarina zuckte mit den Schultern. In ihren Augen glitzerte ein schräger Zug.
»Was ist mit deiner Mutter? Raus mit der Sprache. Ich muss das wissen, sonst kann ich euch nicht helfen.«
»Sie … sie hat Migräne und … und Depressionen … und Angststörungen und solche Sachen. Sie ist in B e handlung. Sie war früher mal Hebamme. Das konnte sie dann aber nicht mehr machen, und dann die Scheidung von meinem Papa …«
»Und wo ist dein Vater?«
»Irgendwo in Albanien. Er ist Moslem. Wir haben schon lange nichts mehr von ihm gehört. Er ist auch nicht Tobis Vater. Tobis Vater lebt in Anklam. Das ist irgen d wo im Osten.«
»In Mecklenburg-Vorpommern.«
Katarina nickte. »Aber der hat eine andere geheiratet und zwei Kinder mit der. Arbeit hat er keine und zahlen tut er auch nicht.«
Auf diese Väter brauchte ich also nicht zu setzen.
»Pass auf, Katarina. Im Moment können wir gar nichts machen. Aber ich besorge euch einen Anwalt. Okay?«
Das Kind nickte.
»Der braucht dann alle Unterlagen, alles, was ihr je schriftlich vom Jugendamt oder Gericht oder sonst ir gen d einem Amt bekommen
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