Lehmann, Christine
habt.«
»Alles klar.«
»Weißt du, wo deine Mutter die Unterlagen hat?«
»Ich glaube schon.«
»Okay. Dann bring sie mir … Aber nicht jetzt. Heute Abend, ja? Jetzt muss ich weg, und zwar zügig.«
Mit sicherer Hand lenkte Richard den diplomatendunklen Mercedes die Kaltentaler Abfahrt hinauf. Der Stadtteil Vaihingen klemmte zwischen den Zufahrten auf die Au t o bahnen, die sich im Süden der Stadt kreuzten und ve r zweigten, und den Abwegen nach Rohr, Dürrlewang, Musberg oder zum Campus der Technischen Universität, der in den siebziger Jahren Wald und Wiesen verdrängt hatte.
»Was hast du mit Frau Depper ausgemacht?«, erku n digte ich mich.
»Dass sie zur Uni kommt, zur Sternwarte. Aber sie war ziemlich desorientiert. Ich konnte nur kurz mit ihr reden. Es war mitten in der Sitzung. Ich habe ihr gesagt, sie solle an die Seen gehen und sich dort auf eine Bank setzen und mich in einer Stunde wieder anrufen.«
Ich zog mein Handy. »Und hat sie angerufen?«
»Nein.«
»Gib mir mal ihre Nummer. Oder dein Handy.«
Richard griff sich ins Jackett. Ich klickte auf die Anr u ferliste. Die letzte waren Zahlen. »Ist es die?«, fragte ich. »12 Uhr 6, und dann die Ziffern …«
»Ja.«
Ich drückte Rückruf und ließ es klingeln.
»Was macht eigentlich Frau Deppers Ehemann?«
»Er ist Anwalt.«
»Nein, Richard, ich meine, warum hat sie nicht ihn angerufen, sondern dich?«
»Das weiß ich nicht.«
Zwischen ausgedehnten Parkplätzen verkrümelten sich die Betonbauten der Universitätsinstitute. Japaner que r ten die Straße. Richard bog in die Sackgasse vor der kleinen Sternwarte ab.
Keine Sonja Depper weit und breit. Rechts Parkplätze am Wald, links ein Studentenwohnheim mit steinerner Tischtennisplatte auf der Wiese. Hinter einer rotweißen Schranke begann der unüberschaubare Glemswald. Er belagerte den Westen der Stadt von Sindelfingen, Bö b lingen, Leonberg und Musberg über Botnang bis nach Feuerbach im Norden nahezu geschlossen, wenn auch immer wieder durchfräst von Autobahnen und Bunde s straßen.
Richard parkte, Cipión tobte im Fußraum, und in R i chards Handy tutete noch immer das Rufzeichen ins Le e re. Richard ging zur Schranke vor. Ich folgte ihm und gab ihm sein Telefon zurück. »Meldet sich nicht.«
Er schlug den Kragen seines Kamelhaarmantels hoch und stopfte den Schal fest. »Gehen wir ein Stück?«
Ein sibirischer Ostwind fegte den Waldrand entlang. Mein Parka hatte dem wenig entgegenzusetzen und me i ne Chucks waren zu dünn. Freudig schritt Richard in den Wald hinein. Cipión rannte voraus, stieß die Schnauze in die Böschung und hatte im nächsten Moment bereits e t was gefunden, was er kauen konnte.
»Pfui!«, schrie ich.
Widerstrebend spuckte der Dackel einen Schnuller aus. Ich kickte ihn vom Weg und scheuchte Cipión we i ter.
»Richard! He, warte! Das hat doch keinen Sinn. Weißt du, wie viele Wege es hier hat? Und sie sind Kilometer lang!«
Richard deutete ein schmales Lächeln an. »Aber wir haben es immerhin versucht.«
Ich begriff: Er wollte Depper nicht finden. Er wollte nur nicht lügen, wenn sie ihm später Vorhaltungen mac h te. Pietistenlogik. Deshalb aß er freitags auch keine Maultaschen, jene Herrgottbescheißerle , die in der gr ü nen Füllung Fleisch versteckten. Mein katholischer Gott ließ sich betrügen, aber der protestantische schaute in die Maultaschen und Richard ins Herz.
»Rein logisch betrachtet«, argumentierte ich, »können wir sie hier nicht finden. Wenn sie sich tatsächlich ve r laufen hat, wie sie behauptet, dann nicht hier, wo man die Unihochhäuser zwischen den Bäumen sieht.«
»Ich glaube nicht«, sagte Richard, »dass Logik und Richterin Depper etwas gemein haben.«
Er sog die kalte Luft tief in die Lungen und schritt energisch aus. Eine Mutter mit Kinderwagen kam uns entgegen. Der Säugling schlief unter Deckenbergen, die jugendliche Mutter schob im Sturmschritt. Ihr Gesicht war ausdruckslos, als dächte sie schon lange nicht mehr darüber nach, wie sie den Tag verbrachte. Hauptsache, der Schreihals schlief.
»Übrigens, jetzt haben sie Tobi abgeholt.«
Richard warf mir einen kurzen Blick zu.
»Du erinnerst dich? Tobias Habergeiß, fünf Jahre, der über mir wohnt.«
Die Erinnerung war unnötig, denn Richards Namen s gedächtnis war computergenau.
»Und zwar mit Polizei, aus dem Kindergarten.«
Der Staatsanwalt schwieg.
»Ich bin sicher, Depper hat das entschieden. Wieso darf eine kinderlose Walküre so was
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