Lehmann, Christine
entscheiden? Und wieso darf eine, die so was entscheidet, Kinder wollen? Sie ist doch nie daheim! Vielleicht sollte ich Depper mal beim Jugendamt anzeigen!«
»Weswegen denn? Sie hat doch gar keine Kinder!«
»Eben drum. Es dient sicher dem Kindeswohl, wenn sie auch niemals mehr eines bekommt! Wahrscheinlich hat sie ihre Töchter im Kinderbett gemeuchelt!«
»Lisa, bitte! Außerdem, wenn du Krieg gegen die z u ständige Familienrichterin führst, kriegt Frau Habergeiß ihren Tobias erst recht nicht wieder.«
»Wie kriegt sie ihn denn wieder, Richard?«
Er senkte das Kinn in den Kragen. »Es wird Gespr ä che geben. Mit allen Beteiligten. Wenn Frau Habergeiß sich nicht allzu ungeschickt anstellt, nicht von vornherein alles ablehnt, sich kooperativ zeigt …« Es klang wie Pfe i fen im Walde.
»Du musst ihr einen guten Anwalt besorgen, ja?«
Er nickte. Wir hatten die drei Stauseen der einstigen Stuttgarter Wasserversorgung erreicht, die Pfaffensee, Neuer See und Bärensee hießen und sommers wie wi n ters von Joggern und Walkern umschwärmt wurden. Ich musste Cipión anleinen. »In schätzungsweise anderthalb Stunden ist es dunkel!«, bemerkte ich.
»Hör auf zu nörgeln, Lisa.«
Mittwochsspaziergänge waren noch hassenswerter als Sonntagsspaziergänge. Ich fragte mich, wie vernünftige Menschen sich Kinder wünschen konnten. Mich brachten schon die Gassifreuden eines Hundes an den Rand des Welthasses. Ich teilte mir den Tag gern selbst ein. Vor allem im Winter.
»Das ist jetzt drei Stunden her, Richard, dass Depper dich angerufen hat. Inzwischen ist sie längst erfroren! Oder in ihrem geheizten Wagen heimgefahren.«
»Sie hat kein Auto.«
»Ach? So kann sie Männer zu Chauffeursdiensten zwingen!«
Richard schwenkte in einen Weg, der vom mittleren See zu einem Parkplatz hinunterführte. Ein Holzsteg schwang sich über die Magstadter Straße. Die Bohlen waren morsch. Dann ging es erneut in den Wald. Imme r hin konnte ich Cipión wieder laufen lassen. Durch die kahlen Bäume sah man weiter unten die Magstadter Str a ße gen Büsnau ziehen, dann Gebäude. Es dämmerte deu t lich.
»Das Lehr- und Forschungsklärwerk der Universität«, erklärte Richard, stets freigiebig mit unnötigem Wissen.
Irgendwo schrie eine Katze.
»Dass kämpfende Katzen aber auch immer klingen wie Babys auf der Schlachtbank«, seufzte ich.
Cipión blieb stehen und stellte die Schlappohren. Ich hechtete vorwärts, um ihn am Halsband zu fassen, bevor er losschoss. Zu spät. Cipión schoss los, ich fasste daneben, stolperte vom Weg über die Böschung und konnte mich gerade noch an einem Bäumchen festhalten. Da ging es ziemlich steil runter. Cipión überschlug sich, kugelte in einem Schwall von Laub abwärts und kam an einer Baumwurzel an einem Bach wieder auf die Pfoten. Nicht weit davon lag ein schwarzer Müllsack.
Nein, kein Müllsack! Es waren Kleider, ein länglicher Haufen, aus dem es violett leuchtete. Verdammt! Ich drehte mich zu Richard um, der mit den Händen in den Taschen herumstand und aus seinem hochgeschlagenen Kamelhaarkragen geduldig in die Welt blickte.
»Du, ich glaube, da unten liegt einer.«
Er verkrampfte sich. »Wie?«
»Ich schau mir das mal an.«
»Nein, Lisa, nicht!«, rief er. Richard war nicht zurec h nungsfähig, wenn der Tod irgendwo herumlag. »Komm zurück!«
Ich rutschte den steilen Hang hinunter. Man konnte die Polizei nicht wegen eines Haufens Altkleider rufen. Doch sie nicht zu rufen ging auch nicht, falls es doch eine Le i che war.
Cipión stand mit hängender Rute an dem Baum, der ihn gebremst hatte. Und wieder schrie die Katze. Das registrierte ich am Rande. Deutlich sah ich jetzt den vi o letten Schal, der sich von der Astgabel eines Baums zum oberen Ende des Kleiderbündels spannte. Und das Bü n del war kein Bündel, sondern ein schwarzer Winterma n tel. Wirr fiel mausgraues Kopffell. Von einem Gesicht war nichts zu sehen. Es hatte sich ins Laub gewühlt. U n ten ragten, verdreht, aus mächtigem Gesäß Jeanshosen heraus. Ein Bein war nach vorn gefallen. Der Fuß des anderen Beins stippte ins Wasser, das eisig kalt und klar rostrotes Buchenlaub umspielte.
Das Laub rutschte mir unter meinen Füßen weg, als ich hinüberkibbelte . Aber es musste sein. Nur sollte ich mich nicht am Schal und nicht am Baum festhalten, an dem die leblose Person hing. Drei Sekunden nahm ich mir und machte mit meinem Handy Fotos. Erst dann krustelte ich die Haare beiseite und tastete nach Hals und
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