Lehmann, Christine
Puls.
Die Haut war kalt, Puls war keiner zu spüren. Aber das musste nichts heißen bei der Kälte. Einen Erhängten konnte man zurückholen, wenn sein Hirn nicht länger als eine Viertelstunde ohne Sauerstoff gewesen war.
Tot oder nicht? Wenn ich den Schal löste, zerstörte ich alle Spuren.
Egal. Ich nahm den Kopf an den Haaren hoch … Ein Ohrstecker mit rotem Stein fiel mir ins Auge. Sonja De p per! Mit Erde und Laub im Gesicht und filigranen Moo s rosetten im einen halb offenen Auge, einem Blattstiel im Mundwinkel, die Lippen gebleckt vom Aufprall auf den Boden und mittlerweile erstarrt. Da brauchte ich nicht mehr an Wiederbelebung zu denken.
Und wieder schrie die Katze. Sehr nah!
Cipión fiepte. Es hielt ihn nicht mehr auf seinen Hi n terkeulen, er kam und stöberte mit der Schnauze unter den Mantel der Toten. Ich zerrte ihn heraus. »Sitz! Cip i ón ! Sitz!«
Der Katzenjammer kam von tief unter der Leiche. Und mit einem Mal legte mein träges Gehirn den Schalter um. Es war Babygeschrei.
Ich riss den Mantel hoch und damit die Schulter. Unter dem Leib, in einer kleinen Höhle, die das nach vorn gefa l lene Bein und das breite Becken gerade so gelassen hatten, bauschte sich rosafarbene Wolle. Ein winziges Gesicht starrte mir entgegen, halb bedeckt von einem Zettel. Ich nahm ihn weg, steckte ihn ein und schubste die Leiche auf den Rücken. Sonja Deppers Leiche gebar einen Säugling.
»Ja, wer bist du denn?«
Der Winzling blinzelte ins Licht, verzog das Gesicht, riss den zahnlosen Mund auf und schrie. Ich griff das Bündel – einen Zipfel der rosafarbenen Wolldecke mus s te ich unter der Hüfte der Richterin hervorziehen – und klemmte es mir in den Arm. Richard war von hier unten aus nicht zu sehen. Also musste ich es auf zwei Beinen und mit nur einer Hand den Hang hinauf schaffen. Sogar Cipión hatte Mühe.
»Richard!«, schrie ich.
Er beugte sich über die Kante. Mit manteltasche n warmer Hand zog er mich den letzten Meter auf den Weg hi n auf.
»Ja, wer bist du denn?« Richards Stimme klang zär t lich, vergnügt, fast übermütig. Leben statt Tod, das e r leichterte ihn.
Wie selbstverständlich wechselte der Säugling in seine Hände. Richard besaß einen natürlichen Zugang zu Ki n dern jeden Alters. Als wäre er sein Leben lang Amme gewesen, gab er dem Köpfchen mit zwei Fingern Halt, knöpfte seinen Mantel auf, schob das Bündel darunter und drückte es an sein warm schlagendes Herz. Das Kleine wurde augenblicklich ruhig und schaute nur noch, mit großen blauen Augen.
»So ein süßes Butzele!«, murmelte er und zupfte das rosafarbene Mützchen zurecht. »Du bist aber mal eine ganz Hübsche!«
»Es ist Sonja Depper«, referierte ich.
»Was?«
»Sie liegt tot da unten. Sieht aus, als hätte sie sich im eigenen Schal erhängt.«
Richard nickte, ohne aufzublicken. »Und ein ganz ka l tes Naschen hast du. So ein kaltes Naschen. Und Hunger hast du sicher auch.«
»Richard!«
»Ja?« Er wippte das Kindchen in seinem Arm. »Ja, gähn du nur. Schön warm ist es, gell? Und bald gibt’s Happihappi.«
»He, huhu, Richard!«
Verwundert blickte er mich an. »Ja, was ist denn?«
»Da unten liegt deine Familienrichterin, tot! Unter der Leiche befand sich dieser Säugling.«
Richard zog die Brauen zusammen, ohne die Augen von seinem Mantelaufschlag zu wenden. Seit ich ihn kannte, war er fasziniert vom Lebendigen, egal, wie klein und hilflos es war. Das Gesichtchen in seinem Arm war fürchterlich winzig. Seine Haut wirkte, als sei sie zu groß. Unter dem rosafarbenen Mützchen kam spärlicher schwarzer Flaum hervor.
Ich bedachte Deppers hüftig und bäuchlings eher fü l liges Erscheinungsbild. »Sie wird doch nicht heimlich schwanger gewesen sein und soeben entbunden haben, hier im Wald?«
Richard schüttelte den Kopf. »Ein paar Wochen dürfte die Kleine schon alt sein. Ja, du hast sicher Hunger, mein Butzele?«
»Wir müssen die Polizei rufen!«
Richard hob den Blick nicht vom faltigen Gesich t chen. »Keine Sorge«, murmelte er. »Wir werden deine Mama sicher ganz bald finden.«
Ich tippte die 112. Die Zentrale meldete sich. Ich sagte meinen Namen – meine Handynummer sahen sie sowi e so auf ihren Bildschirmen – und meldete den Fund einer leblosen Person am Lehr- und Forschungsklärwerk der Universität Stuttgart, waldseitig. »Augenscheinlich im eigenen Schal erhängt. Keine Lebenszeichen mehr. Es handelt sich, glaube ich, um Amtsrichterin Sonja De p per.«
Der Beamte ließ sich in
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