Lehmann, Christine
Blick zu. Den ersten, den sie mir gönnte. »Das wird zwar in bestimmten Polemiken immer wieder behauptet und die Presse steigt leider allzu schnell darauf ein, aber wir machen hier nur unsere Arbeit … eine schwierige Arbeit.«
Richard beugte sich leicht vor und blickte die Beamtin plötzlich freundlich an. »Sind Sie eigentlich ganz s i cher«, fragte er, Brücken bauend, »dass es Ihre Mitarbeiter w a ren, die Tobias Vlora gestern aus dem Kindergarten g e holt und in Obhut genommen haben? Sie selbst waren ja of fe n sichtlich nicht dabei.«
Hellewart starrte den Staatsanwalt an. Dann stand sie auf, sagte: »Wenn Sie mich einen Moment entschuldigen würden«, und eilte hinaus.
Richard zwinkerte mir zu, ich grinste zurück, wir blickten uns im Zimmer um, schauten an die Decke, wa r teten. Zwei Minuten, fünf Minuten. Nach sieben Minuten kam sie wieder.
»Ja, Herr Dr. Weber.« Ihrer Stimme war die Verwi r rung anzuhören. »In der Akte Habergeiß ist tatsächlich nichts vermerkt von einer Inobhutnahme. Es liegt auch kein richterlicher Beschluss vor. Aber die zuständige Sachbearbeiterin ist heute leider erkrankt.«
»Das heißt, der kleine Tobias schwirrt irgendwo in Ih rem System von Heimen und Pflegefamilien herum, und Sie wissen nicht, wo?« Richard klang staatstragend en t setzt.
»Das wird sich schnell aufklären«, antwortete Hell e wart. »Wir versuchen gerade, die erkrankte Kollegin tel e fonisch zu erreichen. Und nun zu der Kleinen …« Sie trat hinter ihren Schreibtisch, tippte eine Kurzwahl ins Tel e fon und sagte knapp: »Brigitte, kommst du mal.«
Die Frau, die uns vorhin durchs Amt geführt hatte, e r schien. Hellewart stellte sie uns als Frau Belial vor. Die lächelte muttersüß und streckte die Hände nach Alena aus. »Na, dann geben Sie sie mal her, die süße Krott.«
»Wieso?«
»Sie wollen den Säugling doch nicht behalten?«, sagte Hellewart.
Richards Miene wurde eigensinnig. »Warum nicht?«
Die ASD-Leiterin, die Richard gerade eben zerlegt hatte, lächelte wieder. »Stellen Sie sich das nicht so leicht vor, Herr Dr. Weber. Mit Verlaub, Sie machen auf mich nicht den Eindruck, als seien Sie auf die Pflege e i nes Säuglings ernsthaft vorbereitet.«
»Wieso ernsthaft? Wieso nicht vergnüglich?«
Hellewart musterte den Herrn im braunen Dreiteiler aus gutem Tuch, italienischen Schuhwerk und mit g e pflegter Selbstsicherheit im Gesicht mitleidig. »Schauen Sie, Herr Dr. Weber, wenn Mütter hier mit Neugebor e nen erscheinen, dann haben sie Windeln zum Wechseln d a bei, ein Teefläschchen und mindestens eine Tragesch a le.«
»Alena schreit, sobald ich sie ablege«, erklärte R i chard.
»Neugeborene müssen sich erst an den Tag-Nacht-Rhythmus gewöhnen. So was darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Sonst hat man schnell ein Schreibaby.«
»Halten Sie es nicht auch für möglich«, fragte R i chard, »dass Alena traumatisiert ist? Wie es aussieht, ist sie mit Frau Depper einige Meter gestürzt, sie hat den Tode s kampf miterlebt, genau über ihr ist ein Mensch gesto r ben, und dann lag sie einige Stunden unter einer Le i che.« Richard schüttelte sich unwillkürlich. »So was kriegt doch auch ein Neugeborenes mit.«
»Womöglich ist sie verletzt?«, sagte Brigitte Belial.
»Ich war gestern mit ihr im Krankenhaus. Sie ist völlig gesund, zumindest körperlich.«
»Das ist gut, Herr Dr. Weber«, sagte Hellewart in e i nem Engelszungenton. »Und damit das so bleibt, sollten Sie uns die weitere sachgerechte Pflege der Kleinen übe r lassen.«
»Warum sind Sie so erpicht darauf, Alena in Ihre O b hut zu nehmen, Frau Hellewart?«
»Wir sind nicht erpicht darauf. Aber wir sind von Amts wegen Alenas Vormund. Es ist unsere Aufgabe, uns um hilfebedürftige Kinder zu kümmern. Wir haben die Fachkräfte dafür.«
Richard blickte Brigitte Belial scharf an. »Sie wollen Alena zu sich nehmen, nicht wahr, Frau Belial?«
»Das entscheiden wir zu gegebener Zeit«, erwiderte Hellewart.
»Frau Belial hat, wie ich vorhin gehört habe, doch b e reits ihren Bedarf angemeldet. Und wie ich weiter gehört habe, hat sie schon drei Babys in ihrer Obhut.«
Belial stand wie eine ertappte Schülerin. Hinter Hel l e warts Stirn unter dem Grauhaar rasten die Gedanken.
»Ich muss gestehen«, bemerkte Richard, »dass es mich verblüfft, dass Mitarbeiterinnen des Jugendamts selbst Kinder in Pflege nehmen.«
»Das ist durchaus üblich!«, erklärte Hellewart.
»Frau Belial bekommt
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