Lehmann, Christine
Kinderzimmer und starre in das Kinderbettchen, und das Purzel, das ich abends quicklebendig hineingelegt habe, atmet nicht mehr. Me i ne Frau rennt wie eine Gestörte umher, mit dem toten Kind auf dem Arm, und will es nicht wah r haben … Und das zwei Mal.« Sein müder Blick wurde wild entschlo s sen. »Nein, Herr Weber. Ich habe meine Prinzessinnen geliebt. So etwas möchte ich nie wieder erleben. Nie wi e der! Es ist mir einfach zu viel Stress, verstehen Sie, auch bei e i nem adoptierten Kind. Da hat man doch noch mal ganz andere Verantwortung. Bei uns hat es einfach nicht sollen sein. Das muss man a k zeptieren. Verstehen Sie?«
»Hat Ihre Frau das auch so gesehen?«, erkundigte ich mich.
»Ich denke schon. Sie war ja auch beruflich sehr ei n gespannt.«
»Was meinten Sie damit«, fragte Richard, der wieder einmal mehr gehört hatte als ich, »bei einem adoptierten Kind habe man noch mal eine ganz andere Verantwo r tung?«
Detlef Depper seufzte. »Wie soll ich das erklären? Die Natur hat es so eingerichtet, dass wir Kinder kriegen können, solange die Biologie mitmacht. Man muss sogar ziemlich viel tun, um das zu unterbinden. Theoretisch – aber bitte, wirklich rein theoretisch – können wir, wenn ein Kind stirbt, einfach ein neues kriegen, nicht wahr? Ich kenne Frauen, die das sagen. Eigentlich wollen sie nur zwei Kinder, nach dem zweiten könnten sie sich st e rilisieren lassen, aber sie scheuen davor zurück. Eines könnte ja sterben, und dann könnten sie kein weiteres mehr bekommen. Verstehen Sie? Aber bei einer Adopt i on … Da ist das anders. Säuglinge sind schwer zu kri e gen, ein Dutzend Paare stehen bereit, und dann werden wir ausgesucht, uns legt man das Wurm in die Hände, und dann … Nicht auszudenken!«
Richard nickte verständnisvoll. Dann erhob er sich und streckte die Hand aus. »Dann wollen wir Sie nicht weiter belästigen, Herr Depper. Vielen Dank für Ihre O f fenheit.«
»Bitte, gern geschehen«, antwortete der Anwalt ve r dutzt. »Das war es schon?«
»Gibt es noch etwas, was Sie gerne sagen würden?«
Er schüttelte den Kopf. »Aber … darf ich fragen, wa rum Sie …«
»Warum ich Ihnen solche Fragen stelle?« Richard lä chelte entwaffnend. »Ihre Frau hat mich als Mentor b e trachtet. Es hat mich interessiert, rein menschlich. Und es ist doch eine ziemlich rätselhafte Geschichte, das mit dem Säugling. Ich fühle mich fast verpflichtet, alles zu tun, was ich zur Aufklärung beitragen kann. Viel ist es ohnehin nicht.«
Depper nickte. Auch wenn er nicht aussah, als e r schlösse sich ihm der Sinn von Richards Ausführungen. Mir erschloss er sich auch nicht. Richard interessierte sich nicht für Rätsel im zwischenmenschlichen Bereich. Er interessierte sich für Zahlen.
Der Anwalt brachte uns in seinen Empfang hinaus.
Frau Nemkova drehte sich auf dem Schreibtischstuhl zu uns um. Ihre Gesichtszüge waren verwischt vor En t zücken. Sie sah aus wie die größere Schwester der Kle i nen, die sie, ein fremdsprachiges Kinderlied vor sich hin singend, in ihren Armen wiegte. »Sie schläft, die kleine Irina! Meine kleine Irina!«
»Alena!«, korrigierte ich.
Frau Nemkova schaute mich entrückt an. »Alena, ja.« Sie stand auf und kam hinter dem Tresen hervor. Beda u ernd, eigentlich widerstrebend, legte sie den schlafenden Säugling in Richards Arm zurück. »Wenn Sie mal eine Babysitterin brauchen …«
Wohl kaum, dachte ich.
Dass Richard es nicht sagte, korrekt wie er war und stets unwillig, falsche Hoffnungen zu wecken, stimmte mich bedenklich. Womöglich wiegte er sich selbst inzw i schen in völlig falschen Hoffnungen. Schweigend griff er sich ins Jackett und legte seine Visitenkarte auf die Th e ke. »Rufen Sie mich an«, sagte er, jedoch plötzlich nicht mehr an die arme Sekretärin gewandt, sondern an Detlef Depper, »falls Sie mit mir sprechen wollen, auch privat, jederzeit.«
»Man müsste herausfinden, ob die beiden toten Babys von Sonja Depper damals obduziert worden sind«, b e merkte ich, als wir das Treppenhaus hinunterstiegen.
»Davon ist auszugehen«, antwortete Richard.
Schuhleim stach uns in die Nase. Alena nieste und rotzte sich das Gesicht und Richard den Kamelhaarman te l ärmel ein. Er lachte, säuberte das Kind und den Ärmel mit der bloßen Hand und wischte den Ärmel mit einem Zipfel des Tuchs in der rosafarbenen Wolldecke trocken.
Normalerweise benutze Richard Taschentücher.
»Die Obduktionsberichte würde ich gerne sehen«, sa g te ich,
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