Lehmann, Christine
als wir in den von Häuserwänden umstellten Inne n hof traten. »Womöglich sind dem Gerichtsmediziner d a mals schon leise Zweifel gekommen, ob die Kinder nicht vielleicht schlicht erstickt worden sein könnten.«
»Lisa! Bitte! Sag das nicht so laut. Tote können sich nicht mehr wehren. Und ist so ein Verdacht erst einmal in die Welt gesetzt …«
»Warum hast du dir von diesem Ehemann, der so gar keinen Ausdruck für seine Trauer hat und dabei zu Tode erschöpft wirkt, diese Geschichte erzählen lassen?«, e r kundigte ich mich und ließ mit dem Schlüssel die Schließanlage von Richards Limousine putschen.
»Er hat sie aus eigenem Antrieb erzählt. Gefragt habe ich danach nicht, Lisa.«
»Wonach hast du ihn denn gefragt?«
»Ich wollte wissen, ob er Alena schon mal gesehen hat. Hätte ja sein können, dass … dass es ein Kind aus der Nachbarschaft ist.«
»Und was glaubst du?«
Richard zuckte mit den Achseln. »Ich glaube, er lügt. Oder er hat Angst vor kleinen Kindern, oder er ist ei n fach nur völlig durch den Wind. Übrigens, du musst von der Hauswand wegfahren, sonst kann ich nicht einste i gen.«
Ich löste die Limousine, nahm Richard und den Zwu ckel auf, schrappte durch die Gebäudeschlucht auf die Liststraße hinaus und gewann die Immenhofer Str a ße, die uns schnurgerade und steil zum österreichischen Platz hinunter und auf die Stadtautobahn bringen würde.
»Ich habe heute Nacht übrigens jede Menge über das Münch hausen-Stellvertreter-Syndrom gelesen«, erzählte ich. »Diverse Psychiater und Kinderärzte glauben, dass beim plötzlichen Kindstod die Mutter öfter ihre gewaltt ä tigen Hände im Spiel hat, als wir denken. Dabei will sie nicht töten, sie will nur eine dramatische Situation he r beiführen: alle in Panik, Notarzt, Klinik. Die Kollegen im Geschäft alle voller Mitgefühl. Ich meine, zwei Fälle von plötzlichem Kindstod! Das ist extrem unwahrscheinlich! Ein britischer Arzt hat ausgerechnet, dass die Wah r scheinlichkeit dafür …«, ich versuchte mich an die Zahl zu erinnern, die ich gelesen hatte,»… bei 1 zu 73 Milli o nen liegt.«
Richard schaute mich ungläubig von der Seite an. »Na!«
»Er soll allerdings irgendwie einen Rechenfehler g e macht haben«, räumte ich ein.
»Das glaube ich auch, Lisa. Vermutlich hat er die Wahrscheinlichkeit dafür, dass ein Kind in einer Familie am plötzlichen Kindstod stirbt, einfach quadriert, so wie man das bei zwei Würfeln macht.«
»Bei Würfeln?«
»Na, wenn du wissen willst, wie hoch die Wahrschei n lichkeit ist, dass man mit zwei Würfeln gleichzeitig eine Sechs würfelt. Bei einem Würfel beträgt die Wahrschei n lichkeit 1 zu 6. Und innerhalb dieses Sechstels beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass die zweite Sechs fällt, wi e der 1 zu 6. Folglich muss man ein Sechstel mit einem Sechstel malnehmen, das ergibt 1 zu 36.«
»So?«
»Ja, Lisa. Beim Würfel kann man das machen, weil der Wurf des ersten Würfels auf den des zweiten keinen Einfluss hat. Beim plötzlichen Kindstod dagegen gibt es Einflüsse, genetische Faktoren, ob die Eltern rauchen, ob sie beim zweiten Kind überängstlich sind und so weiter. Hier handelt es sich um eine sogenannte bedingte Wah r scheinlichkeit. Quadriert man da die Einzelwahrschei n lichkeiten, kommt eine astronomische Unwahrschei n lichkeit heraus.«
»Aber es ist doch tatsächlich sehr unwahrscheinlich, dass einer Mutter zwei Kinder hintereinander urplötzlich versterben.«
»Du hast es immer noch nicht kapiert, Lisa. Aber trö s te dich, da geht es vielen Richtern und Staatsanwälten nicht anders. Man nennt so was auch den Trugschluss des Staatsanwalts. Das menschliche Gehirn hat einfach ke i nen Sinn für Wahrscheinlichkeiten. Was würdest du s a gen? Wenn du bestimmt eine Sechs würfeln willst, wie oft musst du dann mindestens würfeln?«
»Sechsmal.« Ich musste lachen. »Nein, Quatsch. Ich kann ja auch siebenmal oder achtmal würfeln, ohne dass die Sechs fällt.«
»Oder sie fällt gleich. Auch eine Wahrscheinlichkeit von 1 zu 73 Millionen sagt nichts darüber aus, wann das Ereignis eintritt. Morgen, übermorgen oder nie. Und nur weil die Wahrscheinlichkeit extrem niedrig ist, heißt das eben nicht, dass eine Mutter, die zwei Kinder durch den Krippentod verliert, des Mordes schuldig ist.«
Ich jagte Richards Limousine mit den erlaubten Dre i ßig durch die Neckarstraße am Sparback und meiner Wohnung vorbei zur Ampel an der Hackstraße vor.
»Und wie hoch ist die
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