Lehmann, Christine
Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind plötzlich stirbt?«, erkundigte ich mich. »Da müsste man jetzt doch nur die Wurzel aus diesen so falsch zur Wahrscheinlichkeit quadrierten 73 Millionen ziehen, nicht?«
Richard überschlug es im Kopf. »Demnach sterben rund 8500 Kinder jedes Jahr den Krippentod. Das kommt ungefähr hin.«
Der Mercedes hoppelte über die Stadtbahnschienen, vorbei am Internet Café Sp@ce. Ich bog in die Ri e cke straße ab, oben wieder rechts, dann wieder rechts in die Hackstraße und schleuderte über die Kreuzung auf die Gegenfahrbahn der Neckarstraße. »Ist das viel oder w e nig?«
»Das ist viel!«, antwortete er. »Es sind durchschnit t lich 23 Kinder pro Tag. Es ist mehr, als in Deutschland Menschen bei Verkehrsunfällen sterben.«
Ich bog in den Gebäudetunnel zum Parkplatz der Staatsanwaltschaft. Die Polizistin im Glasgehäuse an der hinteren Pforte pumpte sich auf. Richard musste sich über mich beugen und mit dem rosafarbenen Ausweis der Staatsanwälte wedeln, damit sie die Schranke öffnete. Dabei strömten mittags hier Kreti und Pleti zum Kinde r hort. Und zu Fuß kamen sie vom Roten Kreuz nebenan in die Kantine. Außerdem standen die Hintertüren offen, weil Pulks davor rauchten.
11
Richard wickelte in meinem Badezimmer Alena, ich stürmte meinen Computer. Wagner hatte mir geantwo r tet. Er hatte mir eine Mail mit einer Serveradresse und der Mahnung »Ändere mal dein Passwort! « geschickt.
Wenn ich mit dem Hacker zu tun hatte, wurde mir stets bewusst, wie offen mein Rechner war. Wagner hatte mir eingeschärft, meine Zugänge nicht zu speichern, aber mein Passwort hatte auf meinem Rechner wohl längst Spuren hinterlassen, oder er hatte eine Software bei mir installiert, die alle Passwörter dokumentierte, die ich tip p te. Jedenfalls kannte er es, was auch ein Vorteil war. Ich klickte mich auf den angegebenen Server, schrieb mein Passwort in die Abfrage und gelangte zu den Date i en, die er für mich abgelegt hatte. Die erste Liste enthielt die Adressen der Jugendamtspflegefamilien in Stuttgart, 21 an der Zahl, darunter Brigitte Belial mit ihren drei Schreihälsen.
Sie beherbergten insgesamt 48 Kinder, aber ein Tobias Vlora war nicht darunter.
Richard ging mit Alena auf dem Arm vom Badezi m mer in die Küche. Ich hörte ihn das Fläschchen zubere i ten.
Die zweite Liste führte Namen und Adressen von 138 Familien im Großraum Stuttgart, denen eine unüberse h bare Menge von Kindern zugeordnet waren. Dieselbe Liste gab es noch einmal, nach den Nachnamen der Pfle gekinder sortiert, 443 an der Zahl. Hinter schä t zungswe i se hundert Namen stand keine Familienadresse, sondern das Wort Sonnennest. In einer dritten Datei hatte Wagner seinen Rechercheweg dokumentiert, den ich nur übe r flog. Demzufolge hatte er die Liste der 443 Kinder über eine Mail-Weiterleitung an den Rechner einer Sti f tung Xeno dochium direkt vom Computer des Kinde r heims Sonne n nest geholt.
»Xenodochium«, rief ich. »Was heißt das?«
»Moment!«, antwortete Richard aus der Küche.
»Es ist eine Stiftung, die was mit Kindern zu tun hat«, rief ich.
Richard erschien in der Küchentür, das Kind auf se i nem linken Arm, in der anderen Hand das Fläschchen. »Xenodochium stammt aus dem Griechischen. Es setzt sich zusammen aus xenos, Fremder, und dechomai, je ma n den als Gast aufnehmen. So nannte man früher klösterl i che Fremdenherbergen und später Einrichtungen für A r me und Findelkinder.«
»Nie gehört! Du?«
Alena krähte in seinem Arm und ruderte mit den Är m chen. »Ja, ja, gleich gibt’s Happihappi.« Richard hielt sich das Fläschchen gegen die Schläfe, dann stopfte er den Schreimund mit dem Nuckel und gurrte: »So ist es fein. Ja, Xenodochium … nicht so gierig, Schneckle, es ist genug da! … Xenodochium ist eine Stiftung mit Sitz im Mahdental im Kreis Leonberg. Es ist eine alte Villa mitten im Wald, die zum Kinderheim umgebaut wurde.«
»Sonnennest?«
»Ja, das Sonnennest. Es wird von einem gewissen Ambrosius Baphomet, der auch im Vorstand der Stiftung sitzt, und seiner Frau Rosalinde geführt, ist aber ein wir t schaftlich eigenständiger Betrieb. Die Stiftung Xenod o chium verfügt über einige Millionen aus dem Vermögen des schwäbischen Klodeckelherstellers Gutmann, dem die heutige Villa Sonnennest einst gehört hat. Mit den Stiftungsgeldern werden Pflegefamilien unterstützt. Vo r standsvorsitzende ist die Witwe Gutmann, seine zweite Frau. Die Stiftung Xenodochium
Weitere Kostenlose Bücher