Lehmann, Christine
schaffen. Deshalb nahm ich sie zu mir herauf. Auf halber Treppe streikte sie. Ich musste sie tragen, dreißig Kilo stinkenden Schäferhund. Auf meinen Dielen fiel sie ins Koma.
Ich setzte mich an den Rechner. Im Netz fand ich ein Familienfoto der Leidenfrosts. Sie hatten ihre Homepage zwar geschlossen, aber etliche Bilder waren bereits auf andere Seiten diffundiert, die sich in wüsten Skandalr u fen ergingen und die Ablösung oder Steinigung von Jugen d amtschef Manteufel forderten. Die Situation war ohne Zweifel verfahren.
Ich druckte mir die Adresslisten mit den Pflegekindern des Sonnennests aus, programmierte meinen N a vi, e r weckte Senta von den Toten, nahm Cipión an die Leine, ging Brontë in der Rieckestraße aus ihrem Garage n schlaf wecken, fuhr Senta in die Urbanstraße und trug sie die achtzig Stufen zu Sallys Wohnung hinauf.
Brontë sprotzte mürrisch. Der hochzeitsweiße Porsche mit nuttenroten Ledersitzen aus der Wirtschaftswunde r zeit mochte die Stadt nicht: zu viele Ampeln, zu viele Fußgängerüberwege und Tempo-30-Zonen. Wäre sie nicht vierzig Jahre alt gewesen und hätten die Oldtimer-Freaks von Stuttgart nicht rechtzeitig Rabatz gemacht, dann hätte ich sie aus dem Verkehr nehmen müssen, weil sie die Feinstaubplakette nicht tragen wollte. Erst auf der B14 zum Schattenring hinauf schnurrte sie zufrieden. Auf kreuzungsfreier Straße passierten wir das Unigelä n de, streiften Vaihingen und rasten nach Böblingen. Der N a vi brachte mich in die Schwabstraße. Hier, in einem etwas zurückgesetzten Haus mit Garten, war laut Wa g ners Liste Celine Leidenfrost seit einem Dreivierteljahr unfreiwillig zu Hause. Im Garten hinter einer dichten Hecke erspähte ich einen Sandkasten mit vorwinterlicher Abdeckung, eine Schaukel und ein Klettergerüst. Ich machte Cipión von der Leine los und zeigte ihm die L ü cke in der Hecke. Kein Dackel konnte einem Loch widerstehen. Er ve r schwand.
Ich lief zum Tor und rief: » Cipión !«
Dackel gehorchten auch nur selten. Ich sah Cipión mit fliegenden Schlappohren um die Hausecke biegen. Und weg war er. Was sollte ich tun?
Ich klingelte.
Nach einer Weile knackte die Gegensprechanlage und eine Frauenstimme fragte: »Ja!«
»Entschuldigen Sie, mein Hund ist in Ihren Garten g e laufen. Er ist harmlos! Ein Dackel. Aber er hört nicht. Vie l leicht könnten Sie …«
»Moment.« Eine Frau in Jeans und Norwegerpull o ver trat aus der Haustür. Zwei kleine Kinder drängelten nach.
»Er ist hinters Haus gelaufen!«, rief ich. »Tut mir echt leid. So was hat er noch nie gemacht. Haben Sie eine Katze? Sobald er eine Katze sieht, saut er hinterher. C i pión !«, brüllte ich noch mal.
Auf Puschen trat die Pflegemutter auf den Plattenweg zum Tor. Sie fixierte mich, als müsste sie mich mit einem Dutzend Verbrecherfotos abgleichen und sich meine Pe r sonenbeschreibung merken. »Sie müssen Ihren Hund an der Leine führen.«
Ich hob die Leine hoch. »Habe ich. Aber plötzlich war er weg, der Schlawiner. Es ist mir wirklich arg, dass ich Ihnen Unannehmlichkeiten mache.«
»Schon recht.« Die Frau drückte auf einen Knopf an der Garage außerhalb meiner Reichweite und öffnete das Tor. »Dann holen Sie ihn halt schnell.«
»Danke!« Ich stürmte den Plattenweg, winkte den Kindern im Hauseingang zu und bog rufend hinters Haus. Cipión hatte zuverlässig das gefunden, was er nicht hätte finden sollen. Hastig schlappte er aus einer großen Schüssel Vanillepudding, der auf der Terrasse auskühlen sollte. Das kommt davon, wenn man sich den Kühlschrank spart, dachte ich. Aber gut, bei einem ha l ben Dutzend Kindern im Haus mochte eine Riesenschü s sel Pudding im Kühlschrank zu viel Platz wegnehmen.
» Cipión , pfui!«, schrie ich und zog ihn am Halsband aus der Schüssel. Er röchelte und strebte zurück ins Schlaraffenland. Ich leinte ihn an.
»Der schöne Pudding!«, rief die Frau. »Zwei Liter Milch!«
»Ich bezahle Ihnen natürlich den Schaden«, erklärte ich, zog mein Portemonnaie und nahm einen Zehner raus.
»Wo soll ich so schnell zwei Liter Milch herkri e gen?«, überlegte sie und nahm ohne weitere Umstände meinen Zehn-Euro-Schein. »In zwei Stunden gibt es Abendessen, ich muss kochen.«
»Der Rest ist für den Ärger«, sagte ich. »Aber wenn Sie wollen, gehe ich und hole Milch. Oder Fertigpu d ding. Sie müssen mir nur sagen, wie viel.«
»Danke, aber wir kaufen nur im Biomarkt.«
»Dann fahre ich zum Biomarkt.«
Zum ersten Mal blickte mir die
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