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Lehmann, Christine

Lehmann, Christine

Titel: Lehmann, Christine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mit Teufelsg'walt
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Mutter zurückzukommen? Ins Fegefeuer hi n ter Riffelglas, wo sich das Leben unterm Balkensepp duckte, sonntags Messe und Apfelkuchen, unter der Woche Zö p fe und Sparsamkeit, ansonsten verbotene Spiele unter der Bettdecke und Angst, aus der Vorhölle in die Hölle zu kommen.
    Ein Heim wäre mir am Ende schon nach wenigen T a gen wie Befreiung vorgekommen, umso mehr eine neue Familie, in der man mir mit Neugierde begegnet wäre. Man hätte Begabungen entdeckt, die mir bis heute unb e kannt waren. Ich wäre aufs Gymnasium gegangen und hätte studiert. Kurz: Ich hätte Wertschätzung erfahren. Pflegefamilien waren die einzigen Familien, die mit Fü h rerschein erzogen, die geprüft wurden, bevor sie Kinder bekamen.
    Doch Celines Zeilen klangen gar nicht froh. Sie kla n gen nach Angst und Bedrohung, nach der würdelosen Hoffnung der Geisel, sie werde überleben, wenn sie nicht den Zorn derjenigen erregte, die Macht über sie haben: Pflegeeltern, Jugendamt, Luzifer.

15
     
    Bevor ich den Motor startete, rief ich Karin Becker an. Sie leitete das Archiv des Stuttgarter Anzeigers und has s te Fettfinger und allgemeine Aufträge wie »Alles über das Jugendamt Stuttgart«. Ob ich morgen mal kommen kö n ne, fragte ich sie.
    »Worum geht es denn?«, fragte sie mit ihrer am Tel e fon überraschend dunklen Stimme.
    »Ums Jugendamt Stuttgart, ums Sonnennest und all das.«
    »Verstehe«, sagte sie. »Ich schaue mal, was ich habe, und stelle Ihnen eine Mappe zusammen.«
    »Sie sind ein Schatz, Frau Becker!«
    Sie lachte verlegen.
    Der Navi führte mich durch Sindelfingen, Maichingen, Magstadt und über Waldstrecken ins Mahdental. Das Sonnennest lag zwei Kilometer tief in einem wegelosen Zauberwald. Im Augenwinkel sah ich zwischen den Bäumen Gnome hopsen und Irrlichter locken. Die Z u fahrt endete an einem Parkplatz für vier oder fünf Autos, der von einem mannshohen Sichtschutz aus Holz eing e fasst war. Es gab eine Garage, groß genug für einen Bus, ein hohes Tor mit Videokamera und eine Schauvitrine mit allerlei Schriftlichem. Vom Haus selbst war wegen des Zauns nichts zu sehen.
    Ein Kinderhaus musste sich wie ein Frauenhaus schü t zen vor auf Besitz und Misshandlungsrechte pochenden Vätern, vor zu allem entschlossenen Löwinnen, vor Pä d e rasten und Journalisten, das leuchtete ein, aber der Kloß, den ich im Hals hatte, quoll auf. Was dachten Ki n der von einer Welt, vor der man sie so versteckte? Wer an Flucht dachte, würde eine kilometerdicke Schicht von Kinde r angst vor Wald und Wolf überwinden müssen. Vor allem nachts. Doch es mochte ein Irrtum sein, wenn ich glau b te, Flucht sei der Gedanke, der die Kinder da drin beherrsc h te. Wohl eher lagen die Kinder auch heute Abend wieder in ihren Betten und wünschten sich, was sie niemals b e kommen würden. Bitte, lieber Gott, lass Mama und Papa mich liebhaben! Mach, dass Papa nicht mehr trinkt. Mach, dass Mama mich nicht schlägt und ich wi e der nach Hause kann.
    Ich tat so, als hätte ich mich verfahren, wendete, fuhr aus dem Sichtbereich der Kamera heraus und stellte Brontë an einem Holzstapel ab. Ein Trampelpfad führte um das Gelände herum. Tief im Dickicht war der Zaun weniger blickdicht. Soeben verloschen im Abend die Farben von Spielgeräten, Kletteranlagen und von Kin de r hand bemalten Bolzwänden. Die alte Villa des Klode cke l fabrikanten stand hinter alten Tannen. Es handelte sich um ein Fachwerkschlösschen mit Erkern und Tü r men. Im sandsteinernen Sockelstockwerk waren Fenster erleuc h tet. Ich erkannte ein paar Kinderköpfe, die hin und her gi n gen.
    Sollte ich über den mannshohen Maschendrahtzaun steigen? Schaffen würde ich es. Doch was würde es letz t lich bringen außer dem Risiko, erwischt zu werden, und dem Ende aller Chancen, später als Vertreterin der Presse Einlass verlangen zu können. So arriviert war ich nun doch schon, dass ich auf mich hörte. Außerdem hatte ich Hunger. Morgen war auch noch ein Tag.
    An den Bärenseen entlang, die man auch bei Tag hi n ter den Bäumen nicht gesehen hätte, über den Schatte n ring und durch den Viereichenhau- und Heslacher Tu n nel rollten wir zurück in den Stuttgarter Kessel. Man musste ganz runter, um von dort über Liststraße und Alte Weinsteige wieder hinauffahren zu können. Auf den H ö hen von Degerloch hatte Richard in der Kauzenhecke seine Wohnung, gleich an der Zahnradbahnhaltestelle Haigst. Als Schwabe stieß er sich nicht an der widersi n nigen Logik, dass die Zacke wegen des

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