Lehmann, Christine
sinken, j e doch nicht ohne Richard einen raschen Blick zuzuwe r fen. Le i der reagierte er nicht. Jugendliche waren wirklich arm dran. Ich zog meinen Geldbeutel und gab ihr drei Euro.
»Aber um 18 Uhr bist du wieder hier!«, sagte Richard.
»Warum denn?«
»Keine Diskussionen!«
Katarina zappelte. »Aber ich habe keine Uhr.«
Richard hob seinen milchkaffeebraunen Blick mit le i sem Spott. »Dann gibt es wohl nur zwei Möglichkeiten. Entweder du bleibst hier sitzen und behältst die ganze Zeit die Wanduhr im Auge. Oder du gehst nur durch Straßen, wo du die Kirchturmuhr sehen kannst. Oder siehst du noch eine dritte Möglichkeit?«
»Im Internet Café hängt sicher auch eine Uhr«, schlug Katarina hastig vor. »Und am Computer ist auch eine.«
»Dann kann ja nichts schiefgehen«, sagte Richard.
Seine Tochter hätte ich nicht sein mögen! Mein pos t pubertärer Kampf gegen die argumentative Übe r macht des Juristen wäre mörderisch ausgefallen.
»Ihre Mutter hat sich gestern Abend das Leben g e nommen«, erklärte ich meiner Mutter, nachdem Katarina gegangen war, obgleich es nichts erklärte. Im Gegenteil. Andererseits, was erwartete ich von Katarina? Dass sie die ganze Zeit heulte? »Und ihren Bruder hat das Ju gen d amt tags zuvor verschleppt«, setzte ich hinzu.
»Das ist ja schrecklich«, antwortete meine Mutter. »Wer kümmert sich jetzt um das Kind? Du kannst das doch nicht.«
»Warum sollte ich das nicht können!«
Meine Mutter überhörte es und wandte sich an R i chard. »Und der Vater? Auf und davon? Manche Me n schen sollten wirklich keine Kinder bekommen. Man müsste …«
»Seid fruchtbar und mehret euch!«, unterbrach ich sie, bevor sie faschistisch wurde. »Entweder du und dein Papst wollt Gebärmütter oder ihr seid für Kondome, Mama.«
Richard erhob sich. »Alena braucht ihr Fläschchen. Könnte ich wohl Ihre Küche …«
»Natürlich! Kommen Sie, Herr Dr. Weber.«
Während die beiden in der Küche leise, aber hörbar um die Vormacht über Milchpulver, Wasser, Fläschchen und Flaschenwärmer rangen und sich, wie ich vermutete, gegenseitig die Kleine aus den Armen rissen, ging ich aufs Klo, stolperte im Gang über Reisetaschen, Koffer und zusammengeklappten Kinderwagen, rief Cipión und trat vors Haus, damit der Dackel das Bein heben und ich eine Zigarette rauchen konnte.
Wenn sich an der Zahl der Gepäckstücke Familie n stand und Reifegrad bemaßen, dann war ich der Wech se l jahresdepression nahe. Danach kam nur noch senile Bet t flucht und Inkontinenz.
Petra fiel mir ein, das Mädchen aus dem Gallion’schen Reitstall mit dem salzigen Unterschichtstrotz auf den Lippen, den matronenhaften Hüften und schweren Brü s ten [4] . Pfundweise Lebendigkeit hatte sie mir geschenkt mit ihren sechzehn Jahren. In Klamotten und Reitsti e feln waren wir vom Stuhl gefallen, ich hatte die Ve r antwo r tung nicht mehr übernehmen wollen für das, was sie tat, was anstand, was sich ergab, was sie wissen wollte, nie unsicher. Sie war eine dieser seltenen, ve r schwenderisch gepolsterten männlichen Seelen gew e sen, voll erotischer Sicherheit und der entwaffnenden Begabung, aus mir eine Kinderschänderin zu machen. Inzwischen musste sie das Abitur haben, wahrscheinlich hatte sie Vingen ve r lassen, lebte in Berlin. Eigensinnig, lesbisch, vielfältig. Bei mir hatte sie sich nie wieder gemeldet. Vermu t lich würde sie es erst tun, wenn ich vertrocknet und für sie ihre erste Erfahrung nicht mehr peinlich, sondern nosta l gisch war. Ich hatte schließlich auch Hede nie mehr au f gesucht, die Domina, die mich für einige Hunderter über die Schamgrenze geführt ha t te, wo Worte nicht mehr hinkamen. Nur mein Körper erinnerte sich noch an nie wieder erreichte Lüste. Nie wieder hatte ich mich so fa l len lassen dürfen. Nur ein paar Sekunden war ich vom Tod entfernt gewesen und hatte doch keine Sekunde Angst gehabt. Solchen Lüsten konnte man sich nur hi n geben, wenn die Beziehung eine geschäftliche war, wenn der ganze Gefühlsscheiß fehlte, mit dem wir Weiber uns traktierten, vorher und nachher, all die Erwartungen und Enttäuschungen, die regelmäßig in kleine Racheakte mündeten und im Moment der Macht einerseits und vö l ligen Ohnmacht andererseits womöglich einen Tick zu viel strafende Gewalt hervo r riefen, tödlich dann.
Es hatte auch noch andere gegeben, Verführungen ge gen meinen oder ihren Widerstand, Beziehungen in gegense i tigem Einvernehmen und voller Illusionen für ein paar
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