Lehmann, Christine
Oxytocin. Es hilft nicht nur bei der Geburt und macht, dass eine Mutter, ob sie will oder nicht, ihr Kind liebt, es wird auch ausgeschüttet beim Orgasmus, zumindest bei Frauen. Sie lieben dann ihre Männer, auch wenn sie schnarchen oder sie mit Nutten auf dem tschechischen Straßenstrich betrügen. Sonja Depper hatte am Morgen ihres Todes Sex mit ihrem Mann. Das hat Meisner dir mitgeteilt, erinnerst du dich? Du hast daraufhin festgestellt, dass du lieber nicht e r mordet werden möchtest. Sonja Deppers Organismus stand zudem kurz vor dem Eisprung. Da steigt der Östr o genspiegel, das Ei reift, die Gebärmutter ist gut durchbl u tet, der Muttermund öffnet sich. Sonja Depper war gierig auf Empfängnis und Mutterschaft an diesem Morgen. Und sie war über dreißig. Da steigt der Kinderhunger ins U n erträgliche. Sie war total verspult, verstehst du. Und am Vorabend unterhalten wir uns mit ihr im Tauben Spitz übers Kinderhaben. Falls sie sich je damit abgefunden hatte, dass sie niemals mehr ein Kind knuddeln wird, so haben wir an diesem Abend alles wieder aufgewühlt. Oder ich war es mit meinem Angebot, ihr ein Kind im Internet zu beschaffen. Einen Pakt mit dem Teufel hat sie es genannt. Erinnerst du dich? Der Dämon der Hormone hatte sie im Griff, und sie hat es zugelassen, weil sie glaubte, eine Frau ohne Kinder sei nichts wert. Ein mit keinerlei Vernunft und Verstand zu bezwingender Ki n derwunsch hat sie getrieben, zum Sonnennest hinausz u fahren und sich das Kind zu holen, das ihr, wie sie fand, zustand. Sie hat gemacht, was Äffinnen tun, wenn eine Rangniedere ein Baby hat. Sie schnappen es ihr weg. Alena ist Eliska Nemkovas Baby, Richard.«
Er seufzte. »Mag sein. Und Depper ist dann im Wald zur Besinnung gekommen und hat mich angerufen, damit ich alles wieder in Ordnung bringe, bevor öffentlich wird, dass eine Familienrichterin ein Kind entführt.«
»Doch jemand ist dir – uns – zuvorgekommen.«
Richard zog noch eine Zigarette aus der gelben Schachtel. Er lauschte ins Haus – es war alles still – und zündete sie sich an. »Aber wer?«
26
Nach dem Abendessen schlugen wir unser Büro in der Küche auf. An der einen Seite vom Küchentisch saß R i chard mit der gefütterten, gebadeten, frisch gewindelten und schlafenden Alena auf dem Arm und blätterte Karin Beckers Pressemappe und Akten durch. Auf der anderen Seite saß ich am Klappcomputer und scrollte meine Han dyfotos von Sonja Deppers Leiche.
Meine Mutter saß in der Stube vorm dröhnenden Fer n seher und häkelte. Katarina hatte sich aufs Sofa g e legt und schlief trotz der Dröhnung. Sie hatte tatsächlich pünktlich um sechs geklingelt. »Wie spät ist es?«, hatte sie Richard atemlos gefragt. Die Kirchenglocke hatte sechs Uhr geschlagen, und Katarina hatte gerufen: »Ich bin pünktlich, sehen Sie?« Richard hatte gelächelt und ihr kurz die Hand auf die Schulter gelegt, mehr nicht. Aber Katarina war einen Zentimeter gewachsen. Für ein paar Minuten war ihr Leben leicht. Man musste nur pünktlich sein, damit andere lächelten. Beim Abendessen war sie dann in Tränen ausgebrochen. Richard hatte, ehe ich re a gieren konnte, den Arm um sie gelegt und sie an sich g e zogen.
»Warum haben meine Eltern mich nicht geliebt?«, ha t te sie an seiner Brust geschluchzt. »Ich weiß nicht mal, wo mein Vater ist. Vielleicht ist er auch längst tot. Und M a ma war immer nur depressiv. Dabei hatte sie doch uns. Und was hätte ich denn tun müssen, damit Mama uns lieb g e habt hätte? Warum kriegen Eltern Kinder, wenn sie sie dann nicht lieben können?«
Wir hatten es stumm ausgehalten, dass es darauf keine Antworten gab. Nicht einmal meine Mutter hatte es g e wagt, katholische Höllenweisheiten anzubringen. Stumm hatte sie Alena auf ihrem Schoß gehalten. Ihr allfälliges »Wen Gott liebt, den züchtigt er« hätte Katarina kaum zu metaphysischen Einsichten verholfen. Sie gehörte einer Generation an, die sich darauf verließ, dass Erziehung s ohrfeigen verboten waren. Schicksal war für sie keine Prüfung, sondern unnütz.
Später, als sie meiner Mutter beim Abwasch half, hatte ich Katarina kurz vor dem Eintreten fragen hören: »Wenn man betet, muss man da bestimmte Formeln s a gen, so was wie Allahu akbar oder so? Und muss man dafür in die Kirche gehen?«
»Nicht unbedingt«, hatte meine Mutter geantwortet. »Ich zeig’s dir nachher.« Und nun schlief Katarina den Schlaf der Erschöpften, während meine Mutter häkelte und Richard und ich am
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