Lehmann, Christine
Mon a te.
Nur in diesem Fall steckte nichts für mich. Außer An nemarie Hellewart vielleicht, die Unnahbare, die sich nie zu Kindern hinabbeugte, keine Babys knuddelte, die ihren Körper mit naturfarbenen Kostümen vor Hautko n takt schützte. Eine Jugendhilfebeamtin mit einer Kinde r ph o bie, die sie täglich verheimlichen musste. Was für Trag ö dien, die sich da still und leise abspielten! Überall. Eliska, die ihre Tochter suchte und in jedem Baby wi e dererkannte, Sonja Depper und ihr Scheitern am Kinde r reichtum. Der Jugendbeamte Teixel, der an Kindersold a ten dachte, wenn er deutsche Kinder aus prekären Ve r hältnissen holte …
Die Haustür klapperte hinter mir. Richard trat heraus, die Zigarette schon zwischen den Lippen. Sein Zippo klackte, die Flamme sprang. Tief sog er den Rauch in die Lungen.
»Na?«
»Deine Mutter wollte unbedingt die Kleine füttern.« Er blies den Rauch gegen die Wolken. Dunkelheit kroch hinter Eibenhecken und Koniferen hervor. Cipión schnü f felte irgendwo.
»Zwei zu null für meine Mutter«, bemerkte ich.
Er lächelte leicht. »Eigentlich doch ganz schön, so e i ne Oma.«
»Richard, du wirst Alena nicht behalten können.«
»Ich weiß.« Er zog, dass die Glut knisterte. »Meinst du, Eliska Nemkova ist wirklich die Mutter?«
Ich konnte mich nicht erinnern, dass Richards Stimme je geschwankt hätte. Sie tat es auch jetzt nicht, aber sie klang anders, brüchig, zaghaft.
»Und wenn?«, fragte ich.
»Sie hat insgesamt acht Wochen Zeit, ihr Kind zu rüc k zufordern. Erst dann kann es wirklich adoptiert we r den.«
»Das reicht für einen Gentest. Und du kannst derweil schon mal eine anständige Wohnung für die Nemkovas suchen. Dann bezahlst du, was nötig ist, und darfst dein Prinzesschen so oft besuchen, wie du willst. Ein netter Opa ist Eliska sicherlich willkommen.«
Richard schwieg.
Was war das nur? Er hatte seit zwei Nächten nicht g e schlafen, sein linker Arm war ausgeleiert, das Revers seines Sakkos vollgespuckt und fleckig, er kam nicht zum Rauchen, musste jede Stunde, die er im Amt z u brachte, minutiös organisieren, träumte bereits von einer helfe n den Oma, und dennoch … Noch ein Wochenende, das letzte, hatte er sich erobert. Ja, wir waren auf der Flucht.
»Seit wann«, fragte ich, »hast du den Verdacht, dass Alena das Kind von Deppers Sekretärin ist?«
Er schwieg und schaute zu Boden.
»Sag bloß, du hast es von Anfang an gewusst.«
Er hob den Blick, sehr asymmetrisch war er. »Nein. Und ich weiß es immer noch nicht. Ich weiß nur … ich wusste, dass Detlef Depper eine Prostituierte aus Tsch e chien mitgebracht hatte, und dass sie schwanger war. Frau Depper hat es mir mal erzählt, en passant. Sie suc h ten eine Wohnung für die junge Frau und deren Familie – Mutter und Schwester –, sie hat mich gefragt, ob ich z u fällig eine wüsste. Das ist mir wieder eingefallen, als ich gestern Eliska Nemkova in Detlef Deppers Kanzlei sah. Aber wieso sollte ich annehmen, dass Alena ihr Kind ist?«
»Sie hat Alena bei ihrem Namen genannt: Irina.«
»Eliska Nemkova hat ihrem Baby niemals einen Na men gegeben. Sie hat sie doch praktisch gar nicht g e sehen.«
»Natürlich hat sie ihr einen Namen gegeben, Richard! Dafür braucht’s eine Sekunde. Wie soll Eliska denn sonst an sie denken? Und Irina …«
»Alena!«
»Die Kleine hat bei ihr auf dem Arm auch nicht g e schrien. Vielleicht haben Mutter und Tochter gespürt, dass sie zueinandergehören . Unser Geruchssinn erkennt unbewusst immer, was passt und was nicht passt.«
»Und dann ist deine Mutter Alenas leibliche Gro ß mut ter, was? Weshalb sie bei ihr auch nicht schreit?«
»Schon gut! Es wird dir nichts helfen, Richard.«
»Darum geht es nicht!«
»Stimmt. Es geht um Mord. Wegen dieses Kindes hat jemand getötet.«
»Eliska Nemkova hätte Alena nicht unter der Leiche liegen lassen. Sie hätte sie mitgenommen.«
»Jetzt denk doch mal nach, Richard! Detlef Depper bringt eine schwangere Nutte aus Tschechien mit und sorgt für sie. Was muss Sonja Depper da denn denken?«
Richard zog die Brauen zusammen, den Mund hatte er hinter der Hand mit der Kippe versteckt. Ich warf meine, die längst abgeraucht war, ins Vorgartengebüsch meiner Mutter. Ein Wunschtraum meiner Kindheit.
»Ich sag dir, was passiert ist. Detlef Depper lernt an der E55 eine Nutte kennen. Sie ist ihm zu Diensten, sie spricht Deutsch, sie kommt aus Stuttgart, sie muss eine Familie ernähren, sie weint, sie hat Angst vor
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