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Lehmann, Christine

Lehmann, Christine

Titel: Lehmann, Christine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mit Teufelsg'walt
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hat.«
    Er nickte zerstreut, hielt sich das Fläschchen gegen die Schläfe, befand es noch zu warm und fuhr fort, es unterm Wasserstrahl zu schütteln. Alena hatte inzwischen hörbar die Windel vollgeschissen und war ruhiger geworden.
    »So«, sagte meine Mutter, als sie in die Küche z u rückkam, »jetzt geben Sie mir die Kleine mal. Jetzt wird sie gewindelt, kriegt ihr Teechen und dann legen wir sie endlich mal in den Kinderwagen. Das ist ja keine Art, dass Sie sie ständig herumtragen. Sie verwöhnen sie nur.«
    Richards Gegenwehr war marginal. Beinahe willenlos ließ er sich den unzufriedenen Säugling von meiner Mu t ter aus dem Arm nehmen, und das Teefläschchen auch.
    »Aber sie schreit, sobald man sie ablegt, Mama«, e r klärte ich.
    Meine Mutter blickte mich an. »Sie hört auch wieder auf.«
    »Na dann viel Glück!«
    »Das ist keine Glückssache, mein Kind. Das ist eine Frage konsequenter Erziehung.«
    Ja, darin war meine Mutter Meisterin. Konsequent bis zur Verwüstung, beim Löwenzahnausstechen im Garten – wenn einer blüht, wachsen sie überall – genauso wie bei meiner Erziehung. Lass dem Kind einmal was durchg e hen, und es tanzt dir auf der Nase herum. Du wirst Fremdsprachensekretärin. Punktum.
    Immerhin stellte sie einen Aschenbecher hin. »In der Küche können Sie rauchen, Herr Dr. Weber. Aber m a chen Sie nachher das Fenster auf.«
    Darauf marschierte sie mit Alena zur Hinrichtung hi n aus.
    Richard bedeckte das Gesicht und lachte. Es klang ra t los, haltlos und grundlos. Er fuhr sich über die Augen, ließ die Hände sinken, überlegte einen Moment, lockerte die Krawatte, fischte die Zigarettenschachtel aus der J a cke, zog das Jackett aus und hängte es über die Stuhlle h ne. »Deine Mutter ist …« Er warf mir einen vorsichtigen Blick zu. »Sie ist ein … ein Schatz!«
    So hatte ich das noch nicht gesehen.
    Er zündete sich die Zigarette an und ließ den Blick über die Papiere auf dem Küchentisch gleiten. Nichts belebte ihn so zuverlässig wie eng beschriebene Papiere und Zahlenkolonnen. Vergnügt setzte er sich wieder und begann zu lesen, Blätter umzuwenden, Listen zu studi e ren und zu überlegen.
    Noch lange hörten wir Alena immer wieder losbrüllen. Jedes Mal lupfte es Richard vom Stuhl, und ich sagte: »Bleib sitzen! Meine Mutter ist eine erfahrene Prinzi pie n sadistin. Nie lässt sie sich durch unnützes Mitleid erwe i chen. Wenn jemand Alena ruhig kriegt, dann sie.«
    Nach einer oder anderthalb Stunden pixelgenauen St u diums der Leichenfundortfotos fiel mir auf, dass Ruhe herrschte im Haus. Es war zehn Uhr durch. Ich wollte gerade aufstehen und unter dem Vorwand, aufs Klo zu gehen, nachschauen, ob Alena noch lebte oder ob meine Mutter sie im Erziehungsüberschwang mit dem Kissen erstickt hatte, da sagte Richard plötzlich: »Seltsam!«
    »Was?«
    »Im Rechenschaftsbericht des Jugendamts finde ich 251 Kinder, 48 bei den 21 Pflegefamilien, 43 bei der D i akonie, 39 bei der SKFM, dem Katholischen Verein für Soziale Dienste, und 121 beim Jugendamt selbst. 12 Ki n der wurden zudem im vergangenen Jahr adoptiert. Aber auf Wagners Liste, die er aus dem Rechner im Sonne n nest gehackt hat, sind 443 Kinder geführt. Bei den 138 Pflegefamilien des Sonnennests stehen durchschnit t lich zwischen 2 und 3 Kinder. Außerdem zähle ich 98 Kinder mit dem Vermerk Sonnennest.«
    »Ja, es befinden sich derzeit 98 Kinder im Heim, hat Frau Baphomet mir bestätigt.«
    Richard hob die Augen. »Aber das stimmt doch nicht. Dem Jugendamt zufolge müssten es 121 Kinder sein. Das entspräche der Summe, die der Etat der Jugendhilfe u n term Dach des Allgemeinen Sozialen Dienstes ausweist. Andernfalls würde das Jugendamt dem Sonnennest die Unterbringung für 23 Kinder mehr bezahlen, als es hat.«
    »Oh!« Ich setzte mich erwartungsvoll auf. »Das klingt gut.«
    Richard unterdrückte ein Lächeln. »Für jedes Kind, das im Heim untergebracht ist, bekommt Baphomet je nach Alter zwischen 2500 und 3500 Euro pro Monat. Es würde sich für ihn also durchaus lohnen, ein paar Kinder mehr zu f ü hren, als er tatsächlich hat.«
    »Aber muss das Jugendamt das nicht merken?«
    »Wer geht schon hin und zählt die Kinder durch? Wie viele Kinder hast du heute Vormittag gesehen?«
    »Ungefähr fünfzehn. Die anderen waren in der Sch u le … hat man mir zumindest gesagt.«
    »Hast du die Schlafräume gesehen?«
    »Durfte ich nicht, aus Gründen des Persönlichkeit s schutzes.« Mir fiel plötzlich ein, dass ich am

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