Lehmann, Christine
Küchentisch Schlüssel und Schlüsselloch für den Fall suchten.
Vier Fotos hatte ich vom Leichenfundort geschossen, alle aus einer Perspektive. Die Polizei hatte auch keine anderen Bilder von der Auffindesituation. Als sie eintraf, hatte ich ja bereits die Leiche auf den Rücken gekippt, in der irrigen Annahme, eine Wiederbelebung sei noch möglich. Auf keinem der Fotos war das Gesicht der Richterin zu erkennen. Straff führte der violette Scha l strang hinter dem Haarwust in die Astgabel, wo er sich an einem nicht sichtbaren Knorren verfangen hatte.
Kann man überhaupt so sterben?, fragte ich mich. S o bald eine Schlinge die Halsschlagadern zudrückte, verlor man das Bewusstsein. Eine Rettung aus eigener Kraft war nicht möglich. Das sterbende Gehirn feuerte im T o deskampf aus allen Neuronen, man strampelte und za p pelte, schlug sich Hände an, grub das Gesicht in die Erde. Die Blase entleerte sich. Aber hätte der Schal nicht aus dem Astknorren reißen müssen? Hätte sich die Schlinge um den Hals nicht gelöst?
Auf den Fotos war nicht erkennbar, wie oft sich De p per den Schal um den Hals geschlungen hatte. Das zwe i te, lose Ende war auch nicht zu sehen. Es musste hinter der Leiche liegen. Ich versuchte mich zu eri n nern. Ich war die Einzige, die gesehen haben konnte, wie das lose Ende des Schals gelegen hatte: lang ausg e streckt, zusamme n gekrümpelt, als Knäuel? Wie verhielt sich ein flatterndes Schalende, wenn seine Trägerin mit den F ü ßen voran und behindert durch ein Baby auf dem Arm einen Hang hinunterschlitterte, plötzlich gestoppt wurde und im T o deskampf Gesicht und Hände in den Erdboden wühlte?
Aber war sie überhaupt da unten gestorben? Die Pol i zei wusste es vermutlich längst. Die Kriminaltechnik musste Urin im Erdboden gefunden haben, der Recht s mediziner passende Schürfwunden im Gesicht und an den Händen. Wenn Depper aber nicht dort, sondern oben auf dem Weg erdrosselt, hinuntergestoßen und pro forma mit dem Schal im Astknorren verankert worden war, dann hatte der Rechtsmediziner zwei Strangulationsma r ken an ihrem Hals gefunden, mehr oder weniger genau überei n anderliegend.
Auf meinen Fotos stauchte sich Deppers Hand unn a türlich in den Erdboden. War das Zeichen genug für e i nen Todeskampf dort unten? War das Gemisch aus Laub und Erde zerrauft genug für Kampfspuren? Was zum Teufel machte die Polizei glauben, dass Depper sich nicht beim Sturz selbst erdrosselt hatte?
»Richard«, sagte ich. »Du musst Meisner anrufen!«
Er schreckte hoch. »Jetzt?« Er versuchte, auf seine Armbanduhr zu blicken, aber der Arm war von Alena in Beschlag genommen, die durch die Bewegung erwachte.
»Christoph sagt mir doch nichts«, erklärte ich. »Aber sie gehen von Fremdbeteiligung aus. Dir wird Meisner was sagen. Als Staatsanwältin bekommt sie den Bericht des Rechtsmediziners zuerst. Und wie ich sie kenne, liest sie ihn gründlich durch.«
Alena greinte. » Scht !« Richards Töne wurden gu r rend. »Schlaf, Kindlein, schlaf, deine Mutter ist ein Schaf. Dein Vater ist ganz unbekannt, schlaf, Kindlein, schlaf.«
Ich musste lachen. Alena fand es gar nicht lustig. Sie riss das Mündchen auf und brüllte.
»Wahrscheinlich Blähungen«, sagte Richard und stand auf. »Armes Butzele! Tut dir das Ränzle weh?«
Meine Mutter geisterte herbei, hundert Jahre Mutte r schaft im Blick, und schlug Fencheltee vor, den Richard in seinen Vorräten mit sich führte. Katarina wankte ebe n falls in die Küche, warf dem Schreihals einen gequälten Blick zu und fragte, wo sie schlafen könne.
»Ich dachte«, sagte meine Mutter, während sie den Wasserkocher füllte, »Dr. Weber und die Kleine b e kommen das Schlafzimmer, ich schlafe auf dem Sofa und du und Lisa, ihr schlaft in Lisas Zimmer.«
»Falsch!«, protestierte ich. »Mein altes Bett ist zu schmal für zwei. Ich schlafe mit Richard in deinem Eh e bett, Mama, du schläfst in meinem Bett und Katarina schläft dort, wo sie bisher auch geschlafen hat, auf der Couch!«
»Da will ich nicht schlafen. Ich habe schon einen ganz steifen Hals! Wieso darf ich nicht in einem richtigen Bett schlafen wie alle anderen auch?«
»Weil du jung bist und noch keine kaputte Schulter hast«, sagte ich.
»Lass mal, Lisa«, winkte meine Mutter, immer opfe r bereit, ab. »Ich kann auch sehr gut auf dem Sofa schl a fen.«
»Katarina!«, donnerte ich. »Du wirst meine Mutter nicht auf dem Sofa schlafen lassen!«
»Aber sie will doch! Das hat sie doch eben
Weitere Kostenlose Bücher