Lehmann, Christine
dampfte.
»Die große Mondfrage«, prüfte er mich weiter. »Ist das Wasser heiß, wenn es hier herauskommt?«
Ich nahm ein Päckchen und schnitt es auf.
»Du hast sicher in der Schule gelernt, dass Wasser auf einem Berg schneller siedet als unten am Meer.«
Ich klemmte mein Päckchen an die Düse. Hatte der Siedepunkt nicht was mit dem Luftdruck zu tun? Und Luftdruck hatten wir im Habitat wie auf der Erde.
»Vorsicht!«, warnte mich Tamara.
Mein Päckchen schwoll und wurde glühend heiß. »Wait!«, befahl ein Schriftzug im Display über einem Ladebalken.
Hilfe!
Morten lachte. »Das ist eine der unerwarteten Ent deckungen von Versuchen mit der Mikrogravitation. J e des Material hat seinen fixen Siedepunkt, unabhängig von der Schwerkraft. Er liegt allerdings deutlich niedr i ger als auf der Erde.«
»Please take food.«
Ich ließ das Päckchen auf meinen Teller fallen. Wäre nicht das »Warte!« eher ein »bitte« wert gewesen als das »Entnehmen Sie das Essen«?, fragte ich mich. Wer dac h te sich eigentlich die Sätze aus, mit denen Maschinen mit uns kommunizierten? Beamte, entscheidungsfreudige Chefs, indische Programmierer? Darüber musste ich mal schreiben, wenn ich wieder … Ein Stich fuhr mir durchs Eingeweide. Nie wieder Lisa Nerz!
»Und jetzt nimmst du noch mal die Schere«, drängte mich Tamara.
Ich schnitt die Tüte auf und zupfte sie mit spitzen Fi n gernägeln von der dampfenden Masse, die wie ausg e kotzt auf dem Teller liegen blieb. Es sah nach Pute mit Reis aus.
»Der Hunger treibt ’ s rein«, bemerkte Morten.
Eigentlich hatte ich mir Weltraumnahrung in Tuben vorgestellt.
Tamara nahm mich mit an einen Tisch, der direkt am Panoramafenster stand. Gail saß schon dort, der First Lieutenant ohne Kinn, aber mit Nase und berückender Laszivität im Augenaufschlag, und schnippelte eine G e tränketüte auf.
»Hi«, sagte sie. »Wie hast du das hingekriegt im Bi o lab? Die Wände halten vier Bar aus. Die kriegt man nicht so einfach kaputt.«
»Äh!«
»Ich bin Ho Yanqiu aus Beijing«, stellte sich mir glo ckenhell die Chinesin vor, die uns nach unserer La n dung die Raumanzüge abgenommen hatte. Sie wirkte ze r brechlich neben der monströs erotischen Gail und war der Zeugmeister der Artemis, verantwortlich für die Raumanzüge, auf Amerikanisch EMU genannt, extrav e hicular mobility unit. »Außerdem kann ich Rover fahren. Jedes Mitglied der Crew hat mindestens zwei Fähigke i ten«, lispelte sie mit ihrer Glöckchenstimme. »Gail ist Ingenieur. Sie kümmert sich vor allem um das ECLS.«
Ich kapitulierte vor den Abkürzungen.
»Und alles, was kaputtgeht«, ergänzte Gail kauend und mit hängenden Lidern.
»… und sie ist MTA.«
Das klang für mich wie medizinisch-technischer A s sistent.
»Tamara ist HF-Ingenieurin …«
Human-factors-Ingenieurin vielleicht?
»… und …«
»Sag ruhig Sekretärin«, sagte Tamara.
Yanqiu lächelte. »Chefassistentin! Guten Appetit.«
Der Duft von Pute und Reis hatte meinen Hunger he r vorgelockt. Ich schaufelte. Meine Tischdamen unterhie l ten sich in ihrem Mondslang über einen Lunochod 14, der im Aitken-Becken steckte, das SSRMS, das die Solargener a toren beschädigt hatte, über TCC und umgekippte Rau m luft und SSPCs, die bei Stromschwanku n gen Teile des Habitats dunkellegten. Außerdem muckte Zeus. Kürzlich hatte man drei Tage gebraucht, um den Fehler zu finden – das ganze ECLS hatte gesponnen –, und an die Gäste hatte man schon SFOGs ausgegeben.
»Hä?«
»Sauerstoffkerzen«, erklärte Tamara. »Schmeckt ’ s?«
»Hm?«
»Was würde ich für eine richtige Pizza geben!«, seuf z te Gail. »Die echte amerikanische.«
»Pizza ist echt nur italienisch!«, entfuhr es mir.
Gail lachte. »Italien? Kommt der Papst nicht von dort?«
»Der Papst kommt aus Deutschland«, sagte Tamara, die Russin.
»Germany. Heil Hitler!«, grinste Gail und ließ sogar die Hand nach vorn schießen. »The Hofbräuhaus«, rad e brechte sie hinterher.
Yanqiu lächelte undurchsichtig. Zu ihrem Land fielen mir höchstens die Große Mauer ein, Mao Tse-tung und Terra cottakrieger , wobei der Begriff auch schon wieder italienisch war.
Der Nachtisch wurde bejohlt wie Weihnachten. Das STS-214 hatte Erdbeeren mitgebracht, frische Erdbeeren. Na gut, ein bisschen zermatscht waren sie und etwas un te r kühlt, eigentlich fast tiefgefroren. Außerdem gab es Nü s se. Aber die gab es immer.
»Warum sitzen jetzt alle hier?«, fragte ich. »Bis auf Abdul. Ich
Weitere Kostenlose Bücher