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Lehrerkind

Lehrerkind

Titel: Lehrerkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastian Bielendorfer
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dermaßen ungeschickt, dass er epileptische Anfälle bekam, wenn ihn sein Gegenüber auch nur ansah. Er studierte Mathematik und Physik und sollte nun mir und sieben Mitstudenten einen kurzen Vortrag über Trigonometrie halten. Als er anfing zu sprechen, vibrierte sein Mund, als hätte er einen Duracellhasen verschluckt, und kurz bevor die ersten Laute über höhere Mathematik aus seinen gespitzten Lippen drangen, knickten seine Knie weg und er kippte bewusstlos um. Eindeutig ungeeignet, sollte er jemals vor eine Hauptschulklasse nach Berlin-Neukölln kommandiert werden, wäre ihm vorher ein schmerzfreier Suizid anzuraten gewesen.
    Ich machte mich in der Vorbereitung eigentlich ganz ordentlich, meine Ausführungen über den »Freischütz« wirkten recht fachmännisch, vielleicht lag es auch nur daran, dass vor mir eine Referentin mit dicken Waden und Sprachfehler immer »physikalich und mathematich« gesagt hatte, weil sie das »sch« nicht aussprechen konnte. So eine Cheiße.
     
    Doch auf der Heinrich-Böll-Schule hatte ich ein weit kritischeres Publikum als meine Kommilitonen zu bespaßen. Vor mir saß der gesamte Klassenkorpus der 10a, die gelangweilte Generation Golf 5 mit Heckspoiler, auf die draußen ein warmer Sommertag wartete, hier drinnen aber nur Kriegsliteratur und ein verzweifelter Praktikant mit Schnappatmung.
    Bisher kannten mich die Kinder nur als den dicken Dödel, der auf einer Bank in der letzten Reihe saß und sich Notizen zu den Unterrichtsstilen der verschiedenen Lehrer machte. Jetzt plötzlich wendete sich das Blatt und ich war am Drücker, direkt vorn, in vollverantwortlicher Position. Ich hasste es.
    Ich ging im Kopf durch, ob dass die schlimmste Situation meines bisherigen Lebens war, und mir fielen nur wenige Erlebnisse ein, die sich ähnlich schlimm angefühlt hatten wie das hier.
    a) Als ich mit neun Jahren das erste Mal auf einem Pferd saß, nach 20 Metern herunterfiel, mein Fuß im Bügel hängen blieb, meine Hose verrutschte und ich mit heraushängendem Pimmel über den gesamten Reiterhof geschleift wurde.
    b) Als ich mich beim Weitsprung bei den Bundesjugendspielen so schwer verletzte, dass die Sanitäter mir vor versammelter Klasse die zu enge Sporthose vom Leib schneiden mussten, um mein völlig verdrehtes Bein wieder einzurenken.
    c) Als ich in Pumucklunterhose vor meinen Grundschulkameraden stand und meine Solidarität mit der Dritten Welt bekundete.
     
    Nein, das hier war eindeutig das Schlimmste, was mir je passiert war. Mein Geist machte aus den paar clearasilbetupften Teenagern eine messerschwingende Armee aus Mongolen, eine Gruppe Irrer mit brennender Kreissäge, das Hohe Gericht der ewigen Verdammnis. Herr Klober fuhr mit seinem Blick an meinem verschwitzten Oberkörper entlang, ich stand kurz davor, mich komplett ins Nirwana zu transpirieren. Ich war mir sicher, dass er gerade »Bielendorfer trägt wahrhaftig die Hemden seines Vaters auf, außerdem schwitzt er wie ein ungarischer Zwiebelbauer auf dem Scheißhaus« auf seinem Block vermerkte. Ich hatte keinen Frosch, sondern die gesamte amphibische Abteilung des Kölner Zoos im Hals, als ich endlich die Stille durchbrach und anfing über die »Küchenuhr« von Wolfgang Borchert zu referieren. Erst einmal schrieb ich den Titel der Kurzgeschichte an die Tafel, seit Jahren hatte meine Sauklaue keine Kreide mehr benutzt, weshalb dort statt der Küchenuhr nun ein klar lesbares »Kirchenhure« stand. Die ersten zwei Reihen lachten, beim Poetry Slam zumindest war das ein gutes Zeichen. Herr Klober machte eine Notiz. Das war kein gutes Zeichen.
    »So, erst einmal Guten Morgen, liebe Klasse, mein Name ist Bastian Bielendorfer.«
    Stille. Kein Laut war zu hören, erst recht kein »Guten Morgen, Herr Bielendorfer«, nur der iPod von Suleyman aus der letzten Reihe summte dumpf einen Song von Lady Gaga.
    »Was sagt man, wenn der Lehrer den Raum betritt?«, fragte ich im Ton genau jenes antiquierten Pädagogentums, das schon vor fünfzig Jahren abgeschafft worden war. Es fehlte nur noch, dass ich meine Fliege zurechtzog und mit einem Zeigestock auf das Pult hämmerte. Jämmerlich.
    »Aber Sie sind doch gar kein Lehrer«, schallte es hohl aus der letzten Reihe. Das Argument war nicht von der Hand zu weisen, ich war nur Praktikant und damit weniger bedeutsam als der Hund vom Hausmeister, und anscheinend waren sich die Schüler darüber noch mehr im Klaren als ich selbst. Die Hierarchie der Heinrich-Böll-Gesamtschule war wohl so

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