Lehrerkind
»Pssscht«.
Vom Lehrerkind zum Lehrer
Am Fenster flatterte ein kleiner Vogel vorbei und zwitscherte eine Melodie, die so mechanisch klang, als hätte er sich auf einen nassen Elektrozaun gesetzt. Hinter der dünnen Zweifachverglasung verkam die Außenwelt zu einer dumpfen Kopie der Wirklichkeit, alles dahinter schien halb so laut und halb so schnell abzulaufen. Die Heinrich-Böll-Gesamtschule war eine trostlose Plattenbausünde der ausgehenden Fünfzigerjahre, das ganze Gebäude wirkte eckig und ineinander verkantet, als hätte man es aus Lego erbaut. In den Fluren roch es nach Asbest und nassem Kellergewölbe, auf den Fenstern versuchten ein paar aufgemalte Schmetterlinge mit grinsenden Gesichtern, dem Ganzen einen freundlichen Anstrich zu geben. Im Schulhof machte eine Klasse Turnübungen, an ihrer Spitze ein Sportlehrer in Ballonseide mit Trillerpfeife im Mund. Manche Sachen änderten sich nie. Über die Flure tippelten ein paar verspätete Lehrer ihren Klassenräumen entgegen, sie zogen eine Spur aus Zigarettendunst und Angstschweiß hinter sich her. Ich schwitzte ebenfalls am ganzen Körper, besonders am Po. Langsam rann ein Sturzbach aus Schweiß meinen krummen Rücken hinab und durchnässte das kornblumenblaue Hemd, das ich aus der Kommode meines Vaters genommen hatte. Ich räusperte mich, und mein Adamsapfel glitt wie ein Scharnier auf und ab, an jeder meiner ungelenken Bewegungen klebten 30 Augenpaare. Nein, eher 31 Augenpaare, auch der starre Blick von Herrn Klober ruhte auf mir, er hatte einen kleinen Notizblock aufgeschlagen, auf dem er akribisch jede Bewegung notierte.
Ich stellte mir vor, wie er gerade »Bielendorfer räuspert sich, diese Wurst wird ja so was von versagen« auf seinen Zettel schrieb. Langsam wurde ich paranoid, ich hatte nicht gedacht, dass Lehrer zu sein ein so harter Job sein würde, und dabei hatte ich noch nicht mal damit angefangen. Die 10a bestand größtenteils aus Teenagern mit akuter Pubertätsproblematik, aufgebrochene Pickelorgien und verrutschende Oktaven, die Mädchen teilweise absurd geschminkt wie syrische Haremsdamen, die Jungen dem Trend folgend mit dösigen Caps und zu breiten Hosen, die ständig über ihre flachen Hintern rutschten.
Meine Eltern hatten mir schon bei Studiumsbeginn abgeraten, Lehrer zu werden, wobei »abraten« ein ziemlich sanftes Wort für die angedrohte Enterbung und ewige Verbannung aus dem Familiengefüge ist. Sie waren der Meinung, dass jeder, der in der heutigen Zeit freiwillig Lehrer werden wollte, entweder Masochist sei oder einen bemerkenswerten Hirnschaden hätte. Die Schüler von heute waren anscheinend mit dem heilen Weltbild der Sechzigerjahre, als meine Eltern ihr Studium begonnen hatten und der Mensch weder den Mond noch iPods und polyphone Klingeltöne kannte, nicht mehr vereinbar. Heute werde nur noch an der Tischtennisplatte gebeatboxt und gefreestylt. Ich musste lachen, dass meine Eltern Worte benutzten, deren Bedeutung sie nicht kannten, doch als ich drei Jahre später im pädagogischen Einführungspraktikum das erste Mal ein Schulgebäude in der Funktion des Lehrers betrat und eine Gruppe Halbstarker sogleich einen Rap mit dem Titel »Der Schwule von der Schule« für mich intonierte, wusste ich, dass sie recht gehabt hatten.
Das Lehramtsstudium war bisher recht zügig vergangen, was auch daran lag, dass ich den halben Tag bekifft war und mit meinen Kommilitonen vor der Fakultät lag und gegen Studiengebühren demonstrierte, die eh meine Eltern bezahlten. Ein Großteil der Vorlesungen bestand daraus, vor weltfremden Professorinnen mit Doppel-, Dreifach- und Vierfach-Namen (besonders sei hier Dörte Regina Helmchen-Wittkenstein hervorgehoben) Phoneme aus dadaistischen Tonbandaufnahmen ihrer mittlerweile erwachsenen Kinder herauszuschreiben. Didaktik spielte während der ersten Semester keinerlei Rolle, wie und womit man etwas vermittelte, war kein Teil des Curriculums, jedenfalls weder in Deutsch noch in Philosophie. Das merkte man dann auch spätestens im Vorbereitungskurs auf das Praktikum, in dem die Lehramtsstudenten zur Übung Referate voreinander halten sollten. Schnell taten sich ein paar Kandidaten hervor, die für den Lehrberuf ähnlich prädestiniert waren wie ich für eine Karriere als Kunstturner. Martin Siechau wog geschätzte 30 Kilo, war 2,10 Meter groß und hatte so viele Sommersprossen, dass sich kaum eine Mimik hinter dem Wust an Flecken erkennen ließ. Außerdem war er im Umgang mit Menschen so
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