Lehtolainen, Leena
jemand bewegt.«
An seinen steifen Schritten erkannte ich, wie ungern er allein hinausging. Ich hätte auch keine Lust dazu gehabt.
»Du hast also in deinem Zimmer gehört, dass Elinas Telefon klingelte?«, fragte ich Aira, als Palo gegangen war.
»Ich hatte eine Schlaftablette genommen, um wenigstens eine Nacht durchzuschlafen. Das habe ich doch schon erzählt. Im Prinzip kann ich Elinas Telefon in meinem Zimmer hören, aber in dieser einen Nacht hätte ich es nicht gehört.« Aira hatte nicht einmal die Kraft, ihre Verärgerung zu zeigen.
»Elina hatte ihren eigenen Anschluss, getrennt von der Haus-leitung, nicht wahr?«
»Genau. Sie hatte eine Geheimnummer, die man auch bei der Auskunft nicht erfährt. Abends hat sie immer den Anrufbeantworter eingeschaltet.«
»An welchem Apparat wirst du angerufen?«
»Ich?« Aira lächelte müde. »Mich ruft kaum jemand an. Zwei alte Kolleginnen melden sich alle paar Monate einmal, aber im Übrigen findet mein Leben nur hier statt.«
Ich fuhr zusammen, als Palo an das Schlafzimmerfenster klopfte. Natürlich war er selbst vom hell erleuchteten Zimmer aus gut zu sehen, solange er dicht am Fenster stand. Ich probierte verschiedene Beleuchtungsvarianten aus, Palo ging auf dem Hof hin und her und sah sich immer wieder verstohlen um, als könne Halttunen jederzeit über die Mauer klettern. Was auf dem Hof geschah, hatte Elina ohne weiteres sehen können. Als Palo jenseits der Mauer stand, sah ich jedoch nur noch den Licht-strahl seiner Taschenlampe, und als er sie schließlich ausknipste, verschmolz er mit der Dunkelheit. Aber hatte in jener Nacht der Mond geschienen? Es war jedenfalls eine kalte, klare Nacht gewesen, und im Mondschein sah das Gelände rund um Rosberga vermutlich ganz anders aus als bei starker Bewölkung wie an diesem feuchtkalten Abend.
Mit dem Nummerncode hatte Palo das Tor mühelos öffnen können. Ich schickte ihn in die obere Etage, er sollte sich die Zimmer ansehen, überprüfen, was man von dort aus sah, und feststellen, ob man das Haus von dort oben verlassen konnte, über Balkone, Feuerleitern und dergleichen. Wenn Elina von ihrem Fenster aus etwas gesehen hatte, was sie nach draußen lockte, musste es innerhalb der Mauern gewesen sein. Und wer sonst hatte Zutritt zum Hof als die jeweils anwesenden Kursteilnehmerinnen? Wenn Elina allerdings durch einen Anruf in den Wald gelockt worden war, ließ sich der Kreis der Verdächtigen kaum eingrenzen.
All das brachte wahrscheinlich nichts. Dennoch musste ich in den Wald gehen, musste versuchen, mich in Elina hineinzuver-setzen, um herauszufinden, weshalb sie sich im Nachthemd in den Winterwald gewagt hatte.
Plötzlich erinnerte ich mich an ihren vernarbten Muttermund und fragte Aira, ob Elina jemals schwanger gewesen sei.
Aira sah aus wie vor den Kopf geschlagen.
»Elina schwanger? Nicht dass ich wüsste. Meinst du, sie war jetzt schwanger …?« Sie sah mich entsetzt an und hielt mühsam die Tränen zurück.
»Nein, nein, so meine ich das nicht«, beeilte ich mich, sie zu beruhigen. »Ich frage ganz allgemein. Die Form ihres Muttermunds lässt nämlich vermuten, dass sie vielleicht ein Kind zur Welt gebracht oder eine Fehlgeburt gehabt hat, aber in ihren Unterlagen steht nichts darüber.«
Airas Gesicht entspannte sich, doch hinter der Erleichterung blieb eine Trauer zurück, die wohl nie mehr weichen würde.
»Das ist sicher diese alte Geschichte, ich hatte sie schon fast vergessen. Elina war Mitte der siebziger Jahre sechs Monate in Indien und bekam dort eine schwere Blutung, von einer Ge-schwulst in der Gebärmutter. Sie hat sich dort von einem Quacksalber behandeln lassen, der sie stümperhaft operiert hat.
Davon sind wahrscheinlich die Narben zurückgeblieben. Ich erinnere mich nicht mehr an den genauen Hergang, aber ich weiß noch, dass es fast zwei Jahre dauerte, bis ihr Hormonhaus-halt wieder in Ordnung war. Ihre Frauenärztin wird dir das sicher genauer erklären können.«
So fand also auch diese Frage eine natürliche Erklärung. Keine unehelichen Kinder, keine tragische Abtreibung. Aber was hatte ich mir denn da überhaupt zusammengesponnen? Dass Elina am Fenster den Geist ihres verstoßenen Kindes gesehen hatte und ihm nachgelaufen war?
»Seid ihr vorangekommen?«, fragte Aira ihrerseits. Ich schüttelte verzweifelt den Kopf, und auch Aira behauptete, sie könne sich nach wie vor keinen Reim auf die Ereignisse machen.
Palos Schritte auf der Treppe klangen merkwürdig schwer, als
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