Lehtolainen, Leena
die Bücherei geöffnet. Jede Woche verbrachte ich eine selige Stunde zwischen zwei und drei Uhr damit, verbotene Bücher zu lesen. Herr Yli-Autio hatte meine Lesewut bemerkt und führte mich behutsam von den Werken Anni Swans und Lucy M. Montgomerys, die meiner Erinnerung nach ebenfalls verboten waren, obwohl die Heldinnen fleißig die Kirche besuchten, zu modernen Jugendbüchern.
Darin gab es vieles, was ich nicht verstand, zum Beispiel Menschen, die sich küssten, obwohl sie nicht verheiratet waren, sogar ledige Mädchen, die ein Kind hatten. Das verstand ich nicht, ohne Ehe bekam man doch keine Kinder.
Allmählich wurde mir klar, dass es in der Welt viele Dinge gab, von denen ich keine Ahnung hatte. Als besonders verwir-rend empfand ich die Feststellung, dass viele der Menschen, die in unserem Dorf als sündig oder weltlich bezeichnet wurden, liebenswürdig und interessant waren. Ein Mädchen in meiner Klasse, Anna, war ebenso büchernärrisch wie ich. Ihr Vater war Arzt, ihre Mutter Künstlerin. Wir wurden Freundinnen, es konnte nicht anders kommen. Anne hatte weltverbesserische Neigungen, sie wollte mein enges Weltbild erschüttern und mich auf den Weg der Sünde locken. Meine Eltern sahen unsere Freundschaft nicht gern, brachten es aber auch nicht über sich, Nein zu sagen, als Annes Vater persönlich bei ihnen anrief und fragte, ob ich am nächsten Freitag bei ihr übernachten dürfe. Wir waren damals in der neunten Klasse. Ich war voll entwickelt, hatte den ersten, voller Verlegenheit gekauften Büstenhalter bekommen und meine Periode, die ich verzweifelt vor meinem Vater und meinen Brüdern geheim zu halten suchte. Dass man so vieles, was zum Leben einer Frau gehört, verbergen musste, erscheint mir heute fast verrückt, denn im Dorf hatten immer einige Frauen einen dicken Bauch, und jeden Monat wurde mindestens ein Kind geboren.
Bei Anne schminkte ich mich zum ersten Mal im Leben, und sie lieh mir ihre Jeans, als wir am Abend ausgingen. Auch Annes Eltern waren offenbar der Meinung, es würde mir gut tun, mich von den Sitten meiner Gemeinschaft zu lösen.
Er sagte, ich sei ihm vor Jahren in der Kirche aufgefallen, und er habe damals schon beschlossen, dieses Mädchen werde er zur Frau nehmen.
Ich unterbrach meine Lektüre und blätterte die restlichen Seiten durch. Ein oder zwei Seiten fehlten, keine Frage. Wie ärgerlich, ich hätte liebend gern gewusst, was Johanna an jenem Abend erlebt hatte. Hatte sie mir die Seiten absichtlich vorenthalten, oder hatte sie sie unwiderruflich gelöscht, vielleicht aus Schuldgefühl oder Scham?
Antti war längst eingeschlafen, eine der Zeitschriften mit den niedlichen Babys lag neben seinem Kissen. Ich warf sie auf den Boden und legte Johannas Bericht auf meinen Nachttisch, denn die Müdigkeit überwältigte mich. Kaum hatte ich die Augen geschlossen, versank ich tief in einer watteweichen Welt, wo es nach Schnee roch und in der es keine Halttunens gab.
Am nächsten Morgen gelang es mir endlich, einen Termin mit Niina Kuusinen zu vereinbaren, und nachdem ich ein paar Routinearbeiten erledigt hatte, war ich bereit, mich wieder Johannas Lebensgeschichte zuzuwenden. Offenbar betrat nun der Prediger Leevi Säntti die Bühne.
Er sagte, ich sei ihm vor Jahren in der Kirche aufgefallen, und er habe damals schon beschlossen, dieses Mädchen werde er zur Frau nehmen. Ich hatte davon geträumt, nach dem Abitur Medizin zu studieren. Hinter diesem Wunsch standen wahrscheinlich meine schwärmerischen Gefühle für Annes Vater.
Meine Eltern wollten von meinen Plänen nichts hören, obwohl ich fast in allen Fächern eine Eins hatte, nur in Mathematik eine Zwei. Man bot mir an, die Haushaltsschule oder die Handelsschule zu besuchen, doch ich interessierte mich für beides nicht.
Ich muss zugeben, dass ich mich ein wenig in Leevi verliebt hatte. Er war acht Jahre älter als ich, also sechsundzwanzig, gut aussehend, nach den Maßstäben unseres Dorfes elegant gekleidet und gepflegt. Sein Vater und sein Großvater waren bekannte Prediger und hatten bereits ein beträchtliches Vermögen zusammengetragen. Der Hof der Sänttis war einer der prächtigsten im ganzen Bezirk. Auch Leevi hatte bereits erste Erfolge als Prediger vorzuweisen, und er hatte offenbar beschlossen, eine Familie zu gründen, nachdem er sich ein eigenes Haus neben dem seiner Eltern gebaut hatte. Er sagte, er habe mich gewählt, weil ich im richtigen Alter und auf gottgefällige Weise schön sei. Das
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