Lehtolainen, Leena
Bethaus genutzt wurde.
Das Dorf lebte sein eigenes Leben, in das rund zwanzig Kilometer entfernte Zentrum von Yli-Ii fuhr man selten. Meine Eltern waren Landwirte, wie es auch ihre Eltern gewesen waren. Ich hatte drei ältere Brüder, nach mir kam noch ein weiterer Bruder zur Welt sowie als Letzte meine kleine Schwester, die zehn Jahre jünger ist als ich. Sechs Kinder waren in Karhumaa eigentlich wenig. Viele hatten zehn und mehr Kinder, denn sicher neunzig Prozent der Dorfbewohner waren Altlaestadianer. Ihre Religion verbietet Verhütungsmit-tel und Abtreibungen, und Kinderreichtum gilt als Segen Gottes.
Meiner Erinnerung nach hatte ich trotz der strengen religiö-
sen Vorschriften eine glückliche Kindheit. Es gab viele Kinder im Dorf, mit denen ich spielen konnte, außerdem lernte ich backen und half in der Landwirtschaft mit. Da ich die älteste Tochter war, war es selbstverständlich, dass ich meiner Mutter half. Mit fünf Jahren konnte ich bereits Kühe melken, und mit sieben stand ich ebenso selbstverständlich am Herd wie meine Mutter. Als meine kleine Schwester geboren wurde, war ich zehn Jahre alt und platzte fast vor Stolz, als mein Vater sagte, wir bräuchten für die Zeit des Kindbetts keine Haushäl-terin, da ich sehr gut allein zurechtkäme.
Auch die Volksschule habe ich in guter Erinnerung. Da ich bereits mit fünf Jahren lesen konnte, wurde ich ein Jahr früher eingeschult. Unsere Lehrer waren zwar streng und manchmal gnadenlos, aber ich war brav und eine gute Schülerin, die ihnen keinen Grund zum Tadel bot. Nur ein Problem hatte ich: meine Haare. Sie waren kraus und unbändig, sie ließen sich nicht zu ordentlichen Zöpfen flechten. Ich wurde immer wieder getadelt, weil sich einzelne Strähnen aus den Zöpfen gelöst hatten, aber ein Haarschnitt kam auch nicht infrage. Ich lernte schon früh, dass Locken weltlich und schlecht sind, doch ich erinnere mich auch, dass ich die Haare manchmal losband, wenn ich allein war, und es genoss, wie sie auf meine Schultern fielen und mich im Gesicht kitzelten.
Dass ich das Gymnasium besuchen durfte, lag vor allem daran, dass im folgenden Jahr die Gesamtschule eingeführt werden sollte, sodass ich dann auf jeden Fall in Yli-Ii zur Schule gehen musste. Bei der Aufnahmeprüfung erreichte ich die höchste Punktzahl, insgeheim war ich sehr stolz auf meine Leistung. Ich fürchtete mich ein wenig vor dem Übergang auf das Gymnasium. Einerseits war ich wissbegierig und freute mich auf die neuen Fächer und die neuen Lehrer, andererseits hatte ich Angst vor dem Kontakt mit sündigen Menschen. Das war zu erwarten, denn davor wurde ich in den Monaten vor Schulbeginn wieder und wieder gewarnt. Als ich auf das Gymnasium kam, war mein ältester Bruder bereits in der zehnten Klasse, mein zweiter Bruder wiederholte die achte, der dritte ging in die siebente Klasse. Dass Simo nicht versetzt wurde, war sehr beschämend für meine Familie. Ich erinnere mich bis heute an das Gesicht meines Vaters, als er davon erfuhr, und an die Prügel, die Simo bekam.
Meine Brüder hatten wohl den Auftrag, darauf zu achten, dass ich mich in der Schule anständig benahm. Genau genommen überwachten wir alle einander, das war und ist bis heute in Karhumaa Sitte. Der Bus setzte uns um fünf vor acht oder um fünf vor neun vor der Schule ab, und um Viertel nach drei fuhren wir nach Hause zurück. Daher hatten die Schüler kaum Zeit, sich einem sündigen Leben hinzugeben. In den ersten Jahren waren die meisten meiner Lehrer ebenfalls gläubig, daher kam es damals noch nicht zu Konflikten, beispielsweise wegen des Schulfernsehens oder wegen der rhythmischen Gymnastik.
Es gab jedoch eine Schulbücherei, die nicht von meinem eigenen, strenggläubigen Lehrer, sondern von einem etwa dreißigjährigen Finnischlehrer geleitet wurde, der offenbar versehentlich auf seinen Posten gewählt worden war. Er war der Sohn eines Studienfreundes unseres Rektors, hatte sich aber vom Glauben seiner Väter abgewandt. Selbstverständlich gab es in der Bücherei sehr viel religiöse Kinder- und Jugend-literatur, aber auch Sachbücher und Klassiker, und ab und zu wagte es der Lehrer auch, moderne Jugendbücher anzuschaf-fen. Sie wurden allerdings nur von Schülern ausgeliehen, die nicht unserem Glauben angehörten.
Ich erinnere mich besonders gut an mein drittes Jahr, damals ging ich also in die siebente Klasse der Gesamtschule.
Mittags war der Unterricht bereits um zwei Uhr zu Ende, und gerade um diese Zeit war
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