Lehtolainen, Leena
Tagen hatte ich immer wieder darüber nachgedacht, ob Palo und Halttunen noch am Leben wären, wenn die Einsatzleitung auf Hanninen gehört hätte. Bei diesem Gedanken spürte ich unter dem Schmerz Hass aufsteigen. Ich wollte jemanden finden, den ich für Palos Tod verantwortlich machen konnte, jemanden, den ich anschreien, schlagen und treten konnte. Dass Halttunen den tödlichen Schuss abgegeben hatte, spielte dabei keine Rolle.
In der Kantine wurde ich angestarrt wie ein Fabelwesen.
Davon hatte ich bei Vernehmungen schon oft gehört: Menschen, die in einen dramatischen Todesfall verwickelt waren oder eines Mordes verdächtigt wurden, trugen ein unsichtbares Zeichen auf der Stirn, das bei Außenstehenden sowohl Scheu als auch Neugier weckte. Aber dann setzte sich eine der Frauen von der Schutzpolizei an meinen Tisch und holte noch ein paar andere dazu, sodass ich mich nicht isoliert zu fühlen brauchte. Dennoch erinnerte mein Anblick viele Kollegen an einen Aspekt unserer Arbeit, den sie nur zu gern verdrängten.
Zum Glück konnte ich mich auf Routineaufgaben stürzen.
Was Ende der vorigen Woche liegen geblieben war, musste aufgearbeitet werden, Termine waren zu vereinbaren und Berichte zu schreiben. Doch bei jedem Fall, in dem ich gemeinsam mit Palo ermittelt hatte, war mein erster Impuls, ihn beiseite zu legen. Beim ersten, dem Einbruch in das Restaurant in Soukka, hatte ich mich unwillkürlich auf den Weg zu seinem Büro gemacht, um ihn nach seiner Meinung zu fragen. Wie mochte sich Pihko fühlen? Waren Palos Sachen schon entfernt worden, die Fotos seiner Kinder an der Trennwand und all das andere, hatte man die Reservekleidung aus dem Schrank und den berühmten Arzneimittelvorrat aus den Schubladen geräumt?
Ich brachte es nicht über mich nachzusehen.
Ich schaffte es noch, mich zu Hause umzuziehen, bevor ich ins
»Raffaello« fuhr, wo ich mit Tarja Kivimäki verabredet war. Im Bus fiel mein Blick auf einen Kinderwagen, der ordnungsgemäß festgegurtet war. Obwohl das Baby, das ein paar Monate alt sein mochte, friedlich schlief, ging sein Vater, ein magerer, langhaa-riger und bis zu den Fingerspitzen tätowierter Bursche, immer wieder hin, zog die Decke zurecht und brachte den Schnuller in die richtige Position. Er kam mir irgendwie bekannt vor.
An der nächsten Haltestelle stieg ein angetrunkener, rundlicher Mann ein. In der einen Hand hielt er eine Tüte, in der die Flaschen klirrten. Freudig überrascht begrüßte er den dürren Vater:
»Na, da leck mich doch einer, der Nyberg! Wir ham uns ja seit dem Bau nich mehr gesehn. Was machst du denn in Espoo?«
»Meine Alte wohnt hier und meine Tochter. Mach nich so’n Krach, das Baby wacht auf«, versuchte Nyberg ihn zu dämpfen.
Der Mann mit der Tüte legte einen Finger an die Lippen und flüsterte, er würde sich nach hinten setzen, um Nybergs Baby nicht zu stören. Die Tüte schlug klirrend gegen die Haltestange, als er sich auf die Rückbank zwängte.
Er blieb jedoch nicht lange still sitzen. Quer durch den Bus rief er seinem Kumpel zu:
»Haste gehört, dass die Bullenschweine den Halttunen abge-knallt haben? War ein verrückter Kerl, aber echt, ich hab mal gesehn, wie er im Bau beim Gewichtheben dem Soininen ’nen Finger gebrochen hat.«
Nyberg gab keine Antwort, er holte Papier und Tabak aus der Tasche und drehte sich eine. Als das Kind plötzlich aufquäkte, unterbrach er seine Tätigkeit, um es zu beruhigen. Offenbar schlief das Baby gleich wieder ein, denn der Mann kehrte auf seinen Platz zurück und widmete sich wieder seinem Glimmstengel, den er sich schließlich in den Mund steckte, allerdings ohne ihn anzuzünden.
»Hey, Kutscher, sin wir schon in Tapiola? Da muss ich raus«, verkündete der Mann mit der Tüte. Beim Aussteigen sah er das Stäbchen in Nybergs Mundwinkel, machte kehrt und schnorrte ihn an. Der Busfahrer wartete gleichmütig, obwohl es ein paar Minuten dauerte, bis der Glimmstengel den Besitzer gewechselt hatte, zumal die beiden Männer sich auch noch ausgiebig über den guten Kaffee im Knast unterhielten. Wahrscheinlich wagte der Fahrer bei Burschen dieses Kalibers nichts zu sagen.
Tarja Kivimäki saß bereits in einer ruhigen Ecke und hatte ihren Recorder aufgebaut. Ich bestellte ein Glas Mineralwasser und stellte fest, dass ich überhaupt keinen Hunger hatte.
»Grüß dich, Maria, na, bist du über die Sache hinweg?«, fragte sie betont forsch.
»Nein. Bist du über Elinas Tod schon hinweg?«, gab ich
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