Lehtolainen, Leena
ausgeschlossen. Im Allgemeinen hatte ich mich für Schlaftabletten entschieden, obwohl Karri mich darauf hingewiesen hatte, dass bei dieser Methode ein hohes Risiko bestand, gerettet zu werden. Er hatte gemeint, er würde sich notfalls vor einen Zug werfen, woraufhin ich ihn an den schuld-losen Lokführer erinnerte, dem er damit eine gewaltige Last aufbürdete. Karri, der mit voller Überzeugung für Euthanasie eintrat, schwor, sich umzubringen, falls er einmal unheilbar krank oder bewegungsunfähig sein sollte.
»Wie willst du mit Tetraplegie vom Dach springen?«, hatte ich dann gefragt, und unser Nachdenken über den Tod war in Gelächter untergegangen. In seinem ersten Studienjahr hatte Karri Baudelaire, Melleri und in schwachen Stunden sogar Sarkia zitiert: »Lebe furchtlos, setze alles auf eine Karte/das Tor des Todes steht immer offen.« Er sah darin eine überzeugende Lebensphilosophie. Aber hatte er selbst furchtlos gelebt? Mit mir jedenfalls nicht.
Ich kehrte um. Nun musste ich mich anstrengen, um vorwärts zu kommen, denn der Wind war stärker geworden und blies mir ins Gesicht. Mal pfiff er mir um die Ohren wie eine Alarmsire-ne, mal zischelte er sanft zwischen den Gebäuden. Die Dachrinnen an den Gebäuden ringsum schepperten wie klagende Trommeln.
Plötzlich musste ich an den Blick denken, der in Kaitsus Augen lag, als ich ihn das erste Mal im Reha-Zentrum besucht hatte. Die Verlegung hatte ihm bestätigt, dass er keine schnelle Genesung erwarten durfte. Ich hatte mich früher oft gefragt, wie Rane bei der Urteilsverkündung ausgesehen hatte, und fürchtete, dass ich es jetzt wusste.
Während ich gegen den Wind ankämpfte, wurde mir klar, dass ich Pekka und Kode meine Songs doch nicht präsentieren konnte. Sie waren nicht gut genug.
»Gib nicht auf, Katja! Du bist mutig und begabt! Lass nicht zu, dass es dir so ergeht wie mir.«
Ich hörte sie und hörte sie nicht, die Stimme eines jungen Mannes, heiser vom Rauchen. Ich blickte mich um, sah aber nur in weiter Entfernung eine Frau mit einem schwarzen Pudel.
Doch die Stimme war wirklich gewesen. Und vertraut. Als hätte sie Rane gehört.
Ich ging schneller, lief beinahe. Mittlerweile war ich mit feuchtem Schnee bestäubt. Er fiel von meinen Haaren auf die Treppe, im ersten Stock stieg mir wie immer der Geruch von Katzenklos in die Nase. Daran war nichts Geheimnisvolles oder Übernatürliches. Und Tote konnten nicht sprechen.
Ich studierte Ranes Gesicht auf dem Foto, dann kramte ich auch die alten Armeefotos hervor. Rane hatte die gleiche Miene, die auch Kaitsu aufsetzte, wenn er sich irgendwo nicht wohlfühlte. Angeblich hatte Mutter zu Eero Tiainen gesagt, er sei nicht Kaitsus Vater. Wer war es dann? Opa oder Rane? Uns hatte Mutter nie etwas von einem anderen Vater gesagt. Wenn Saras Inzestgeschichten nicht gelogen waren … Aber dann hätte Opa oder Rane meine Mutter als Erwachsene vergewaltigt. Und andererseits glaubte ich doch, ich wäre selbst die Mörderin …
War es das, was Rane mir sagen wollte? Wollte er mich beschwören, meine Chance zu nutzen, weil er für mich gestorben war? Und wer hatte die Fingerabdrücke abgewischt?
Um keinen Preis wollte ich jetzt mit meinen Gedanken allein sein. Aber der nächste Freund wohnte ja nur zwei Häuserblocks weiter. Kurz entschlossen rief ich Pekka an.
»Komm zu mir, ich mach uns einen Tee.«
»Geht nicht, ich bin gerade beim Kochen. Komm du lieber zu mir, es reicht für zwei.«
Ich zog den Mantel wieder an, obwohl der Gedanke, noch einmal nach draußen zu gehen, alles andere als verlockend war.
Aber immer noch besser als das Alleinsein. Über den Hinterhof gelangte ich in Pekkas Treppenhaus und lief hinauf.
»Schön, dass du kommst«, sagte Pekka mit dem jungenhaft breiten Lächeln, das ich einfach erwidern musste. »Ist was passiert?«
»Nein. Ich hab nur zu viel gearbeitet.«
»Was meinst du, ob heißer Borschtsch mit Knoblauch dagegen hilft?«
»Probieren wir es aus.«
Pekkas Wohnung bestand aus einer kleinen Küche und zwei Zimmern, in denen ein ziemliches Durcheinander herrschte.
Überall lagen Schallplatten, Kabel, Stecker und irgendwelche Geräte herum. Hellrote Brühe war auf den Küchenherd gespritzt. Es roch herrlich.
»Ich koche immer für mehrere Tage auf einmal, dann brauch ich mir über das Essen keine Gedanken zu machen.« Pekka deckte den Tisch. »Leg die Zeitungen vom Stuhl auf den Boden und setz dich. Möchtest du Rotwein oder Bier?«
Ich bat um Wein und wärmte das
Weitere Kostenlose Bücher