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Lehtolainen, Leena

Titel: Lehtolainen, Leena Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: du hättest vergessen Du dachtest
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mit Schmelzkäse, einen zweiten mit Erdbeermarmelade und legte sie mit einer dicken Scheibe Käse in der Mitte aufeinander. Ich aß den Doppeldecker, dann noch einen und noch einen … Da merkte ich plötzlich, was ich tat. Automatisch wollte ich mir den Finger in den Hals stecken, doch ich verbot es mir.
    Ich erinnerte mich an die Regeln, die mir meine Therapeutin mitgegeben hatte: Bei Anfällen von Angst und Fressgier musst du Distanz zwischen dich und das Essen bringen, zum Beispiel, indem du einen Spaziergang machst. Also zog ich warme Unterwäsche und eine Trainingshose an und ging an der Gefängnismauer entlang zum Ufer. Ich streckte die Zunge heraus, um einige der Schneeflocken zu erhaschen, die langsam herabschwebten und graziös wie weißgekleidete Ballerinen auf der Erde landeten. Bei dem leichten Frost behielten sie auch dort ihre Form. Ich ging so schnell, dass ich ins Schwitzen kam. Im Herbst war ich fest entschlossen gewesen, Tanzstunden zu nehmen, doch daraus war nichts geworden. Kaitsu würde vielleicht nie mehr tanzen, mich dagegen wirbelte das Leben im Moment viel zu wild herum. Außerdem fürchtete ich mich davor, mein Studium abzuschließen, ohne zu wissen, wie es weitergehen sollte. Warum hatte ich nicht etwas Praktisches studiert, irgendein Fach, das mich auf einen konkreten Beruf vorbereitete?

    Bisher hatte ich immer nur gewartet. Mein Leben würde beginnen, wenn ich das Abitur hinter mir hatte, wenn Karri sich in mich verliebte, wenn ich einen Studienplatz bekam und schließlich, wenn ich von der Bulimie geheilt war. Ganz zuletzt hatte ich mir ausgemalt, nach dem Examen wäre ich die Geld-sorgen und das Gefühl der Wertlosigkeit los. Hatte ich den Abschluss deshalb hinausgezögert? Ein schrecklicher Gedanke: Womöglich war das Leben hier und starrte mir die ganze Zeit ins Gesicht, statt erst hinter dem nächsten Ziel auf mich zu warten.
    Nein, mein eigentliches Leben würde erst beginnen, wenn ich den wahren Grund für alles fand. Nachdem ich erfahren hatte, dass Eero Tiainen wegen Kaitsus Unfall nach Finnland kommen würde, hatte ich mir eine Nacht lang eingebildet, das Wiedersehen mit meinem Vater würde alle Rätsel und Probleme lösen.
    Ich hatte mir ausgemalt, wie wir uns um den Hals fielen. Meinen Vater hatte ich mir ähnlich vorgestellt wie Veikko, nur lässiger: In meiner Phantasie hatten seine schlanken Beine in einer Lederhose gesteckt oder wenigstens in Jeans, er war wie ein Musiker gekleidet gewesen. Dass die Wirklichkeit so weit von meinen Traumbildern entfernt war, hatte ich nicht erwartet. Das Schlimmste war seine Stimme. Die schöne raue Männerstimme, die früher »Blauer Traum« gesungen hatte, gab es nicht mehr.
    Der Mann, der sich Eero Tiainen nannte, hatte ein brüchiges und zugleich aufgeblasenes Organ, seine Stimme klang schweißtriefend.
    Ich hatte Unmengen von Artikeln über Essstörungen und dutzendweise Lebensratgeber, Charakterhoroskope und Kommentare in einschlägigen Chats gelesen. Es würde sich immer ein Grund finden, zu saufen und zu fressen und sich zu sagen, wenn dies oder jenes hinter mir liegt, höre ich auf und fange endlich an zu leben.
    Inzwischen war ich nach Norden gegangen, in den Stadtteil Arabia. Das Schneetreiben war dichter geworden, sodass ich kaum noch auf einzelne Schneeflocken achtete. Wie hieß es noch gleich in dem alten japanischen Gedicht über frischgefal-lenen Schnee? Aber nein, um so etwas ging es hier nicht.
    Irgendwann schmolz der Schnee doch wieder, nichts ließ sich für immer verbergen.
    Natürlich hätte ich auf Mutter wütend sein müssen, weil sie mir Vaters Briefe und Geldsendungen verschwiegen hatte. Doch davor schreckte ich zurück, denn ich wollte nicht erfahren, was sie mir womöglich noch alles verheimlicht hatte. Ich selbst war die Einzige, auf die ich noch wütend sein konnte.
    Am Ufer war es still. Bei diesem Wetter ließ sich kaum jemand zu einem Spaziergang aus dem Haus locken, nur wenige Leute führten ihre Hunde aus. Das Meer war zugefroren, Angler hatten ein paar Eislöcher gebohrt. Wenn man unter das Eis tauchte, würde man nicht mehr nach oben finden, dachte ich.
    Woher kam dieser Gedanke auf einmal?
    Nachdem Karri mich verlassen hatte, hatte ich oft an Selbstmord gedacht. Vorher hatten wir manchmal gemeinsam überlegt, wie wir unserem Leben ein Ende setzen würden, wenn wir in eine ausweglose Situation gerieten. Es war nur ein Spiel gewesen, doch ich hatte dabei an Rane gedacht und jede Art von Erstickungstod

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