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Leibniz war kein Butterkeks

Titel: Leibniz war kein Butterkeks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Lea; Schmidt-Salomon Salomon
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grausame Verhaltensweisen zeigen! Man weiß doch, dass einige der schlimmsten Naziverbrecher sehr liebevoll mit ihren Kindern umgegangen sind und im privaten Umfeld total nett und zuvorkommend waren.
    Da hast du natürlich recht: Man würde es sich zu leicht machen, wenn man Grausamkeit nur auf Hirnanomalien zurückführen würde. Auch gesunde, empathiefähige Menschen können sehr grausame Dinge tun. Oft ist ihnen allerdings gar nicht bewusst, welches Leid sie anderen zufügen, weil sich dieses Leid hinter dem »Schleier der Abstraktion« verbirgt.
    Was soll denn das schon wieder bedeuten?
    Nehmen wir als Beispiel Bomberpiloten: Im Zweiten Weltkrieg wurden, wie du vielleicht weißt, über eine Million Zivilisten bei der Bombardierung von Städten getötet. Vom Leid der Menschen, die am Boden verbrannten oder von herabstürzenden Mauern erdrückt wurden, bekamen die Piloten in der Luft nichts mit. Es blieb für sie abstrakt . So war es auch die meiste Zeit für Adolf Eichmann, der den Abtransport der Juden in die NS-Vernichtungslager organisierte. Zwar war Eichmann ein glühender Antisemit, der hundertprozentig von der sogenannten »Endlösung«, also von der »völligen Ausrottung des europäischen Judentums«, überzeugt war, aber die Erfüllung seiner »mörderischen Pflicht« fiel ihm vor allem deshalb so leicht, weil er in der Regel nur mit Zahlen und Namen hantierte – und die Menschen, die dahinterstanden, kaum zu Gesicht bekam. Als Eichmann jedoch einmal das KZ Auschwitz inspizierte und das reale Elend sah, für das er mitverantwortlich war, erlitt er einen Schwächeanfall. Er konnte gerade noch verhindern, sich vor versammelter Mannschaft zu übergeben, und betäubte sich auf der Rückfahrt mit Unmengen Alkohol.
    Der »Schleier der Abstraktion«, wie du das nennst, kann also verhindern, dass einem das Grauen bewusst wird, an dem man beteiligt ist. Das erklärt aber nicht, weshalb diejenigen, die an vorderster Front stehen, kein Mitleid empfinden. Oder waren die vielen KZ-Wächter, die Tag für Tag bedenkenlos Männer, Frauen, Kinder ins Gas geschickt haben, allesamt Psychopathen und Sadisten?
    Nein. Aus den Tagebucheintragungen dieser Leute wissen wir, dass viele von ihnen sehr wohl mit Mitleidsreaktionen zu kämpfen hatten, insbesondere, wenn sie neu im Lager ankamen. Mit der Zeit setzte dann aber bei den meisten ein gewisser Abstumpfungsprozess ein. So wurde das Morden zur Routine …
    Aber wie konnten sie da überhaupt mitmachen? Sie hätten doch einsehen müssen, dass das ganze System absolut unmenschlich ist!
    Du unterschätzt die Bedeutung des Gruppendrucks sowie die besonderen Wirkungen, die von der nationalsozialistischen Ideologie ausgingen. Menschen neigen nun einmal (nicht zuletzt aufgrund ihres ausgefeilten Spiegelneuronen-Systems) zum sozialen Opportunismus , das heißt: Sie sind sehr anfällig dafür, sich den Regeln der Gruppe, der sie angehören, zu unterwerfen. So war es auch in der Zeit des Nazi-Terrors: Unter Hitler galt Gehorsam als höchste Bürgertugend. Nur die allerwenigsten wagten es, gegen das »Führerprinzip« zu verstoßen, zumal die Kosten, die mit einem solchen Verstoß einhergehen konnten, enorm waren. Zudem hatte die NS-Ideologie, die den ohnehin bereits grassierenden christlichen Judenhass aufgriff, die Gehirne der meisten Menschen so sehr vernebelt, dass sie das offensichtliche Unrecht gar nicht als Unrecht erkennen konnten. Ja, sie sahen es sogar als eine »gute, gerechte Sache« an, sich an der »Ausrottung des Juden« zu beteiligen.
    Aber wie kann es denn irgendjemandem als eine »gute, gerechte Sache« erscheinen, wehrlose Menschen umzubringen?
    Das ist relativ leicht, wenn man in den Opfern keine Menschen mehr sieht, sondern »Teufel in Menschengestalt«. Diese tödliche Differenz brachte man im »Dritten Reich« schon den Kleinsten bei, wie das Stürmer-Kinderbuch »Der Giftpilz« zeigt: Es erzählt von einer Mutter, die mit ihrem Sohn, dem kleinen Franz, Pilze sammelt. Sie erklärt ihm, warum man die guten Champignons auf keinen Fall mit den giftigen Knollenblätterpilzen verwechseln darf, die ja optisch zum Verwechseln ähnlich sind. Das Kind begreift schnell: Das ist so wie bei den Juden, die auf den ersten Blick auch wie gute Menschen aussehen, aber in Wahrheit hochgiftig sind und den »Guten« nur Unheil bringen. Die Mutter, stolz über die Auffassungsgabe ihres Kleinen, bestätigt: »Wie ein einziger Giftpilz eine ganze Familie töten kann, so kann ein

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