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Leibniz war kein Butterkeks

Titel: Leibniz war kein Butterkeks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Lea; Schmidt-Salomon Salomon
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oder?
    Ja. Europa ist momentan auch der einzige Kontinent, auf dem es flächendeckend keine Verbote für homosexuelle Handlungen unter Erwachsenen mehr gibt. Allerdings haben wir diesen Stand der kulturellen Evolution erst vor Kurzem erreicht: So fanden in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1950 bis 1969 noch etwa 100 000 Strafverfahren gegen Homosexuelle statt, bei denen rund 50 000 Menschen wegen des Auslebens ihrer sexuellen Präferenz verurteilt wurden! Dieser Spuk fand erst allmählich in den 1970er-Jahren ein Ende, als hierzulande die »Große Strafrechtsreform« durchgeführt wurde. Diese Reform des Strafgesetzbuchs war ein wichtiger Schritt hin zu einer freiheitlicheren Gesellschaft – vor allem, weil sie mit einer weitgehenden »Entmoralisierung des Rechts« verknüpft war.
    Was heißt das?
    Mit der Strafrechtsreform setzte sich die ethische Ansicht durch, dass es für die rechtliche Beurteilung irrelevant ist, ob eine Handlung » unmoralisch « ist. Entscheidend ist vielmehr, ob durch sie andere »Rechtsgüter« (das heißt: andere rechtlich geschützte Interessen) verletzt werden oder nicht. Im Zuge dieser Neubesinnung verschwanden all die »Sittlichkeitsparagrafen«, die zuvor das Rechtsbewusstsein bestimmt hatten – nicht nur die sogenannte »Unzucht unter Männern« (der einstige »Anti-Schwulen-Paragraf« des Strafgesetzbuchs), sondern auch die strafrechtliche Verfolgung des »Ehebruchs« (der bis 1969 noch mit Gefängnis bis zu 6 Monaten bestraft werden konnte!), der »Verbreitung unzüchtiger Schriften« (womit nicht nur klassische Pornografie, sondern auch Werke der Weltliteratur zensiert wurden) oder der »Kuppelei« (die man als »Förderung von Unzucht« ebenfalls mit empfindlichen Strafen belegte).
    »Kuppelei« war strafbar? Was soll denn schlimm daran sein, wenn man zwei Leute zusammenbringt, die gut zusammenpassen?
    Das hat man vor 40 Jahren noch ganz anders gesehen. Wenn man in den 1960er-Jahren einem unverheirateten Pärchen eine Wohnung für ein »Schäferstündchen« überließ, so konnte das als »Kuppelei« geahndet werden. Noch 1962 erklärte der Bundesgerichtshof, dass der »Beischlaf unter Verlobten«, also kurz vor der Heirat, »Unzucht« sei und die Bereitstellung einer Wohnung für solche »Unzucht« als »Kuppelei« strafrechtlich verfolgt werden müsse. Der Straftatbestand der »Kuppelei« war übrigens auch dann erfüllt, wenn Eltern ihrer 17-jährigen Tochter erlaubten, unter ihrem Dach gemeinsam mit ihrem Freund zu übernachten.
    Auweia, da hättest du mit mir aber wirklich gute Chancen gehabt, im Knast zu landen!
    Absolut! Insofern können wir uns beide bei der sozialliberalen Regierung von Willy Brandt bedanken, die in den 1970er-Jahren nicht nur den Kuppelei-Paragrafen abschaffte, sondern auch den unsäglichen Begriff der »Unzucht« aus dem Strafgesetzbuch strich. Das hat vielen religiös-konservativen Kräften natürlich gar nicht gefallen. Der damals erzielte Fortschritt erscheint moralischen Tugendwächtern selbst heute noch als der »Anfang vom Untergang des Abendlandes«. Doch für jeden unvoreingenommenen Betrachter dürfte klar sein, dass Moralbegriffe wie »Unzucht« in einem modernen, nach ethischen Prinzipien aufgebauten Rechtssystem nichts verloren haben!
    Möglicherweise haben die moralisch »Züchtigen« in der Geschichte ja sogar größeres Unheil angestiftet als alle »Unzüchtigen« zusammengenommen. Was meinst du?
    Ja, dafür gibt es viele gute Belege. Denk nur an die Zeit der Hexenverfolgung und der spanischen Inquisition, an die Zeit des Nationalsozialismus, an die Anti-Schwulen-Hetze des 20. Jahrhunderts oder an die Schicksale der Kinder, die nach dem 2. Weltkrieg in »christlichen Heimen« mit höchstem moralischem Anspruch geschlagen und gedemütigt wurden: Wer nach »Zucht und Ordnung« ruft, meint in der Regel »Züchtigung und Unterordnung« – und das sind Verhaltensweisen, die den Prinzipien des Humanismus und den Werten einer offenen Gesellschaft in fundamentaler Weise widersprechen …
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    »Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist …« Mit diesen Worten skizzierte Karl Marx (1818–1883) den Leitgedanken des Humanismus , einer Weltanschauung, die sich an den Interessen und der

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