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Leichenblässe

Titel: Leichenblässe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Beckett
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mit der Taschenlampe ins Gesicht geleuchtet. Ich konnte gar nichts sehen.»
    |298| «Und sonst? Ist Ihnen an seinem Verhalten oder an seiner Stimme etwas aufgefallen?»
    Ich schüttelte den Kopf und versuchte, mich zu erinnern. «Eigentlich nicht. Obwohl   … Ja, seine Stimme klang   … irgendwie merkwürdig. Belegt.»
    «Als würde er sie verstellen?»
    «Das ist möglich.»
    «Und das haben Sie bisher niemandem erzählt?»
    «Ich habe mir zu dem Zeitpunkt nicht viel dabei gedacht. Hören Sie, es war wahrscheinlich wirklich nur ein Wachmann. Wenn
     es York gewesen wäre, warum hat er mich dann gehen lassen?»
    «Sie haben selbst gesagt, dass es in der Nacht war, bevor Professor Irving verschwand. Vielleicht hatte er andere Pläne.»
    Das ließ mich verstummen. Jacobsen steckte die Fotos zurück in den Umschlag.
    «Wir werden den Sicherheitsdienst des Krankenhauses überprüfen und schauen, ob es jemand vom Personal war. Auf jeden Fall
     lassen Sie besser Ihre Tür verschlossen, wenn ich weg bin. Morgen früh wird sich jemand bei Ihnen melden.»
    «Ich muss also hier warten, bis ich von Ihnen höre?»
    Sie war wieder völlig steif. «Es ist in Ihrem eigenen Interesse. Bis wir wissen, wie wir mit der Situation umgehen.»
    Ich fragte mich, was sie damit meinte, beließ es aber dabei. Jede Entscheidung würde von Gardner oder ganz oben kommen, nicht
     von ihr. «Wollen Sie vielleicht einen Kaffee trinken, bevor Sie gehen? Ich weiß nicht, wie gut die Minibar bestückt ist, aber
     ich könnte einen Kaffee bestellen oder   …»
    «Nein.» Ihre Heftigkeit überraschte uns beide. «Danke, |299| aber ich muss zurück zu Dan», fuhr sie etwas ruhiger fort. Doch die Röte, die sich in ihrem Gesicht ausbreitete, erzählte
     eine andere Geschichte.
    Sie war bereits auf dem Weg zur Tür. Nach einer letzten Ermahnung, sie zu verriegeln, war sie verschwunden.
Was
war das denn?
Ich fragte mich, ob sie meine Einladung zum Kaffee in den falschen Hals gekriegt hatte, aber ich war zu müde, um mir lange
     den Kopf darüber zu zerbrechen.
    Ich sank auf die Bettkante. Ich konnte nicht glauben, dass ich erst an diesem Morgen von Toms Tod erfahren hatte. Eigentlich
     hatte ich Mary noch einmal anrufen wollen, aber jetzt war es zu spät. Ich legte den Kopf in die Hände.
Mein
Gott, was für ein Trauerspiel.
Manchmal beschlich mich das Gefühl, dass ich von Pech und Katastrophen verfolgt wurde. Ich fragte mich, ob sich alles genauso
     entwickelt hätte, wenn ich zu Hause geblieben wäre. Aber ich konnte beinahe hören, was Tom dazu gesagt hätte:
Hör auf, dich ständig zu geißeln,
David. Das alles wäre in jedem Fall so passiert. Wenn du
jemandem die Schuld geben willst, dann nimm York. Er ist
dafür verantwortlich.
    Doch Tom war tot. Und York lief frei herum.
    Ich stand auf und ging zum Fenster. Sofort beschlug die Scheibe durch meinen Atem, sodass ich in der Dunkelheit nur verschwommene
     gelbe Flecken sehen konnte. Als ich sie abwischte, quietschte meine Hand über das Glas. Die Straße unten war ein greller Neonstreifen,
     über den in einem stummen Ballett die Scheinwerfer der Autos krochen. Eine Weile beobachtete ich die Menschen, die geschäftig
     ihren eigenen Interessen nachgingen, jeder nur auf sich selbst bedacht und völlig gleichgültig den anderen gegenüber. Wieder
     wurde mir bewusst, wie weit weg von zu Hause ich war und wie wenig ich hierher gehörte.
    |300|
Aber nun bist du hier. Finde dich damit ab.
    Mir fiel ein, dass ich immer noch nichts gegessen hatte. Ich wandte mich vom Fenster ab und nahm die Karte des Zimmerservice.
     Schon nach einem kurzen Blick auf die übertriebenen Beschreibungen der Fastfoodgerichte ließ ich sie wieder fallen. Mit einem
     Mal hielt ich es in dem Zimmer nicht länger aus. York hin oder her, ich konnte mich nicht verstecken, bis Gardner entschieden
     hatte, was er mit mir machen wollte. Ich schnappte mir meine Jacke und fuhr mit dem Lift hinunter in die Hotellobby. Eigentlich
     hatte ich nur in die Bar gehen wollen, um zu schauen, ob man dort noch etwas zu essen bekam, aber ehe ich mich’s versah, war
     ich daran vorbeigegangen. Ich hatte keine Ahnung, wohin ich wollte, ich wusste nur, dass ich rausmusste.
    Es hatte aufgehört zu regnen, doch die Luft war noch feucht und frisch. Als ich über den schimmernden und rutschigen Bürgersteig
     ging, spritzte Wasser von meinen Schuhen auf. Obwohl mir die Angst im Nacken saß, widerstand ich dem Impuls, mich umzuschauen.
Komm doch, York.

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