Leichenblässe
als mir einer der anderen Assistenten des Leichenschauhauses sagte, dass Kyle an diesem Morgen freihatte.
Noch hatte er nicht von Noah Harpers positivem Hepatitis- C-Befund erfahren, und ich war froh, ihm nicht gegenübertreten zu müssen.
Paul war fast den gesamten Vormittag mit den üblichen Besprechungen beschäftigt und tauchte erst kurz vor Mittag auf. Er wirkte
noch immer erschöpft, aber nicht mehr so sehr wie am Tag zuvor.
«Wie geht’s Sam?», fragte ich, als er in den Autopsiesaal kam.
«Gut. Auf jeden Fall hat es keinen falschen Alarm mehr gegeben. Sie wollte heute Morgen Mary besuchen. Ach ja, wenn du heute
Abend noch nichts vorhast, bist du zum Essen eingeladen.»
Unter anderen Umständen hätte ich die Einladung gern angenommen. Mein Terminkalender war nicht gerade voll, |315| und die Aussicht auf einen weiteren, allein im Hotel verbrachten Abend war deprimierend. Aber wenn York mich beobachtete,
wollte ich unter keinen Umständen Paul und Sam in Gefahr bringen.
«Danke, aber heute Abend passt es nicht so gut.»
«Aha.» Er nahm einen stark angeknabberten Rückenwirbel vom Tisch und drehte ihn in seiner Hand. «Ich habe mit Dan Gardner
gesprochen. Er hat mir von der Haut erzählt, die gestern Abend auf deinem Wagen lag. Und dass du freiwillig deine Hilfe angeboten
hast, um York zu fassen.»
Ich hätte es nicht
freiwillig
genannt, aber ich war froh, dass Paul Bescheid wusste. Ich hatte mich schon gefragt, inwieweit ich ihn einweihen durfte.
«Mir blieb keine andere Wahl. Sonst hätte ich mit der nächsten Maschine nach Hause fliegen müssen.»
Ich versuchte, es unbeschwert klingen zu lassen, aber das misslang mir. Er legte den Wirbel zurück auf den Untersuchungstisch.
«Weißt du wirklich, worauf du dich da einlässt? Du musst das nicht machen.»
Doch, ich muss.
«Das ist schon in Ordnung. Aber jetzt verstehst du bestimmt, warum ich lieber nicht zum Abendessen zu euch komme.»
«Ich finde, du solltest nicht allein sein. Und ich weiß, dass Sam dich gern sehen würde.» Er lächelte mich schief an. «Wenn
ich der Meinung wäre, sie könnte dadurch einer Gefahr ausgesetzt werden, würde ich dich nicht fragen, das kannst du mir glauben.
Klar, York ist gefährlich, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er so verrückt ist, jetzt zuzuschlagen. Die Haut auf deinem
Wagen war wahrscheinlich nur eine leere Drohung. Er hatte seine große Chance mit Tom, und die hat er vermasselt.»
|316| «Ich hoffe, du hast recht. Aber wir sollten es trotzdem auf ein anderes Mal verschieben.»
Er seufzte. «Na gut, wie du meinst.»
Nachdem er wieder gegangen war, fühlte ich mich bedrückt. Ich hätte fast angerufen und gesagt, dass ich es mir anders überlegt
hätte. Aber nur fast. Paul und Sam hatten im Moment genug um die Ohren. Und ich wollte sie auf keinen Fall auch noch in Schwierigkeiten
bringen.
Ich hätte ahnen müssen, dass Sam die Absage nicht so einfach hinnehmen würde.
Ich stocherte gerade in der Cafeteria der Klinik lustlos in einem faden Thunfischsalat und grübelte darüber nach, was ich
mit dem Rest des Tages anfangen sollte, als sie anrief. Sie kam gleich zum Thema.
«Was hast du gegen meine Kochkünste?»
Ich musste lächeln. «Du kochst bestimmt vorzüglich.»
«Ach so, dann liegt es also an der Gesellschaft?»
«Nein, das ist es auch nicht. Ich habe mich über die Einladung gefreut, wirklich. Aber heute Abend schaffe ich es nicht.»
Ich hasste diese Ausreden, aber ich war mir nicht sicher, wie viel Sam wusste. Die Zurückhaltung hätte ich mir sparen können.
«Schon gut, David, Paul hat mir erzählt, was geschehen ist. Wir würden dich trotzdem gerne sehen. Es ist sehr rücksichtsvoll
von dir, dass du dir um uns Sorgen machst, aber du kannst dich doch nicht in Quarantäne begeben, bis dieser Irre geschnappt
wird.»
Ich schaute aus dem Fenster. Vor der Cafeteria gingen Leute vorbei, gefangen in ihren eigenen Leben und Problemen. Ich fragte
mich, ob York irgendwo dort draußen war. Und mich beobachtete.
«Es ist ja nur für ein paar Tage», sagte ich.
|317| «Und wenn es andersherum wäre? Würdest du uns im Stich lassen?»
Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte.
«Wir sind deine Freunde, David», fuhr Sam fort. «Du solltest in dieser furchtbaren Zeit nicht allein sein.»
Ich musste mich räuspern, ehe ich antworten konnte. «Danke. Aber ich glaube, es ist keine gute Idee. Auf jeden Fall im Moment
nicht.»
«Dann treffen wir ein
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