Leichenblässe
Arbeiter um einen wunderschönen alten Ahornbaum herum angelegt, der so zum Zentrum des Grundstückes geworden war. Als wir
daran vorbeigingen, dachte ich, dass der Baum ideal für eine Kinderschaukel wäre.
Merkwürdig, dass ich noch immer auf solche Dinge achtete.
«Paul? Warte mal!»
Der Ruf war vom Nachbarhaus gekommen. Eine Frau eilte über den Rasen auf uns zu. Gebräunt und adrett und mit etwas zu blondem
Haar, das zu einem komplizierten Knoten gebunden war, hätte ich sie auf den ersten Blick für Ende fünfzig gehalten. Doch je
näher sie kam, desto mehr revidierte ich meine Schätzung nach oben; erst auf Ende sechzig, dann auf Ende siebzig, so als würde
sie mit jedem Schritt altern.
«Na, großartig», brummte Paul leise. Er setzte ein pflichtbewusstes Lächeln auf. «Hi, Candy.»
Der Name klang zu niedlich und nicht altersgemäß, aber irgendwie passte er zu ihr. Als sie dicht neben ihm stehen blieb, erinnerte
ihr Auftreten an ein gealtertes Mannequin, das nicht gemerkt hatte, dass seine Zeit vorbei war.
«Ich bin ja
so
froh, dass ich dich sehe.» Durch ihr strahlend weißes Gebiss lispelte sie leicht beim Sprechen. Sie legte Paul eine mit Altersflecken
übersäte Hand auf den Arm, deren von Adern durchzogene Haut braun wie alte Mokassins war. «Ich hätte dich nicht so bald zurückerwartet.
Wie geht’s Sam?»
«Gut, danke. Es war nur falscher Alarm.» Paul wollte mich vorstellen. «Candy, das ist …»
«Falscher Alarm?» Sie machte ein bestürztes Gesicht. «O Gott, nicht schon wieder! Als ich den Krankenwagen sah, war ich mir
sicher, dass es dieses Mal wirklich losgeht!»
Für einen Augenblick schien die Zeit stehenzubleiben. Ich konnte die Frische des neuen Grases und der jungen Triebe |321| riechen und die erste Abendkühle unter der Frühlingswärme spüren. Die Weinflasche in meiner Hand versprach immer noch Normalität.
Dann zerplatzte dieser Moment.
«Welcher Krankenwagen?» Paul wirkte eher verwirrt als besorgt.
«Na der, der vorhin gekommen ist. So gegen halb fünf, glaube ich …» Das eingemeißelte Lächeln der Frau brach zusammen. Sie fasste sich mit einer Hand an den Hals. «Man hat dich doch benachrichtigt,
oder? Ich dachte …»
Doch Paul lief bereits ins Haus. «Sam?
Sam!
»
Ich wandte mich schnell an die Nachbarin. «In welches Krankenhaus ist sie gebracht worden?»
Candy schaute mit bebenden Lippen vom Haus, in dem Paul verschwunden war, zu mir. «Ich … ich habe nicht gefragt. Der Sanitäter hat sie in einem Rollstuhl rausgebracht, und sie hatte so eine Sauerstoffmaske auf
dem Gesicht. Ich wollte nicht stören …»
Ich ließ sie auf dem Weg stehen und folgte Paul. Im Haus roch es nach frischer Farbe und Putz, nach neuen Teppichen und Möbeln.
Ich fand ihn in der Küche, umgeben von funkelnden, neuen Geräten.
«Sie ist nicht hier.» Er sah betäubt aus. «Mein Gott, warum hat mich niemand angerufen?»
«Hast du nachgeschaut, ob du Nachrichten auf deiner Mailbox hast?»
Ich wartete, während er es tat. Mit zitternder Hand tippte er die Nummer ein. Er lauschte und schüttelte dann den Kopf. «Nichts.»
«Versuch es im Krankenhaus. In welchem sollte die Geburt stattfinden?»
«In der Uniklinik, aber …»
|322| «Ruf dort an.»
Er starrte auf sein Telefon und blinzelte, als versuchte er, wach zu werden. «Ich habe die Nummer nicht. Gott, die müsste
ich doch im Kopf haben.»
«Ruf die Auskunft an.»
Er tippte die Nummer ein. Langsam kam er wieder zu sich und erholte sich vom ersten Schock. Ich stand wie angewurzelt da,
als er die Nummer des Krankenhauses wählte. Während der quälenden Momente, in denen er weiterverbunden wurde, lief er hin
und her. Als er zum dritten oder vierten Mal Sams Namen buchstabierte, spürte ich, wie die böse Vorahnung, die mich den ganzen
Tag verfolgt hatte, immer größer wurde, bis sie den ganzen Raum erfüllte.
Paul beendete das Gespräch. «Sie wissen von nichts.» Seine Stimme klang ruhig, aber unterschwellig bahnte sich bereits die
Panik an. «Ich habe es auch in der Notaufnahme versucht. Es gibt keine Unterlagen darüber, dass sie eingeliefert wurde.»
Er tippte wieder hektisch auf die Tastatur ein. «Paul …», sagte ich.
«Da muss irgendwas durcheinandergekommen sein», brummte er, als hätte er mich nicht gehört. «Sie muss in ein anderes Krankenhaus
gebracht worden sein …»
«Paul.»
Er hielt inne. Als sich unsere Blicke trafen, sah ich die Angst in
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