Leichenblässe
gefunden werden kann?»
Sie schaute in ihren Kaffee, als könnte sie darin die Antwort lesen. «York wird sich nicht lange mit dieser Sache aufhalten
wollen. Er weiß, dass wir nach ihm suchen, und er wird nervös und ungeduldig sein. Wenn er sie nicht bereits umgebracht hat,
wird sie vor Ende der Nacht tot sein.»
Ich stellte die Tasse ab, denn mir war übel geworden. «Warum Sam?», fragte ich, obwohl ich es ahnte.
«Nachdem er bei Dr. Lieberman gescheitert war, musste York sein Ego wieder aufbauen. Mit dieser Einschätzung lagen wir immerhin richtig.» Jacobsen
klang verbittert. «Als Frau von Dr. Liebermans Nachfolger, noch dazu im neunten Monat schwanger, hat Samantha Avery ihn wahrscheinlich in zweifacher Hinsicht
gereizt. Ihr Verschwinden garantiert Schlagzeilen und befriedigt außerdem, wenn wir recht |329| haben, was die Fotos angeht
,
Yorks Psychose. Er ist davon besessen, den Moment des Todes auf Film zu bannen, weil er glaubt, dadurch die Antworten auf
seine Fragen zu erhalten. Wer könnte in seinen Augen also ein besseres Opfer sein als eine schwangere Frau, ein Mensch, der
buchstäblich voller Leben ist?»
Mein Gott
. Es war der reine Wahnsinn, doch das Schlimmste war, dass dahinter eine verdrehte Logik steckte. Auch wenn sie sinnlos und
widerlich war.
«Und dann? Er wird die Antworten nicht finden, indem er Sam tötet.»
Jacobsens Gesicht sah so düster aus, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte. «Dann wird er sich sagen, dass sie doch nicht
die Richtige war, und weitermachen. Er wird wissen, dass die Zeit gegen ihn arbeitet, ganz gleich, wie sehr ihn sein Stolz
vom Gegenteil überzeugen will, und das wird ihn zur Verzweiflung treiben. Vielleicht wird er sich beim nächsten Mal eine andere
Schwangere aussuchen oder sogar ein Kind. Auf jeden Fall wird er nicht aufhören.»
Ich musste an die gequälten Gesichter auf den Fotos denken und sah plötzlich Sam vor mir, wie sie die gleiche Tortur durchmachte.
Ich rieb mir die Augen, um das Bild loszuwerden.
«Und was geschieht jetzt?»
Jacobsen starrte aus dem Fenster in die fortschreitende Nacht. «Wir hoffen, sie vor morgen früh zu finden.»
Noch vor Ablauf der nächsten Stunde war es mit der abendlichen Stille vorbei. TB I-Agenten fielen in der ruhigen Gegend ein und klopften in der Hoffnung, weitere Zeugen zu finden, an jeder Tür. Eine Menge Leute konnten
sich daran erinnern, am Nachmittag einen Krankenwagen gesehen zu |330| haben, aber niemandem war etwas Ungewöhnliches an ihm aufgefallen. Krankenwagen sprechen für sich. Ihr Anblick erregt vielleicht
eine morbide Neugier, aber nur wenige Menschen wundern sich, wenn sie einen sehen.
Und Sams und Pauls Nachbarn erst recht nicht.
Gardner war es nicht gelungen, mehr von Candy zu erfahren. Alles, was sie mit Sicherheit sagen konnte, war, dass ein Mann
unbestimmten Alters in einer Sanitäteruniform dort gewesen war. Jedenfalls hatte es ihrer Meinung nach wie eine Uniform
ausgesehen
: Dunkle Hose und blaues Hemd mit Abzeichen. Dazu eine Schirmmütze, die den größten Teil des Gesichtes verdeckt hatte. Ein
großer Mann, hatte sie zögerlich hinzugefügt. Ein Weißer. Oder vielleicht ein Latino. Bestimmt kein Schwarzer. Wenigstens
glaubte sie das …
Es war ihr nicht einmal merkwürdig vorgekommen, dass der Sanitäter allein gewesen war. Und über den Krankenwagen hatte sie
noch weniger sagen können. Nein,
natürlich
hatte sie sich die Nummer nicht gemerkt. Warum auch? Es war doch ein Krankenwagen.
«Offensichtlich ist Samantha Avery nicht gefesselt oder geknebelt worden, sie muss also betäubt oder bewusstlos gewesen sein»,
sagte Gardner, während Paul mit Sams Mutter telefonierte. «Möglicherweise hat er irgendein Gas verwendet, aber ich glaube,
die Sauerstoffmaske hatte nur den Zweck, die Nachbarn fernzuhalten. Gas ist zu riskant, besonders wenn sich jemand wehrt,
und York wollte bestimmt, dass sie so schnell wie möglich wieder zu sich kommt.»
«Brutale Gewalt wird er auch nicht angewendet haben», sagte Jacobsen. «Wenn man jemanden bewusstlos schlägt, besteht die Gefahr
von Gehirnerschütterung oder Hirnschäden, und das wollte York mit Sicherheit vermeiden. Seine Opfer |331| müssen bei vollem Bewusstsein sein, wenn er sie tötet. Er kann es nicht riskieren, sie auf den Kopf zu schlagen.»
«Das hat er bei Irvings Hund aber getan», erinnerte Gardner sie.
«Der Hund war nebensächlich. Er hatte es auf seinen Besitzer
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