Leichenblässe
Sam.
Draußen war es dunkel geworden und in der Küche schummerig. Ich schaltete das Licht an. Die neuen Möbel |326| und die frischgestrichenen Wände strahlten einen beinahe spöttischen Optimismus aus. Ich war selbst einmal in Pauls Situation
gewesen, allerdings mit einem entscheidenden Unterschied. Als Jenny verschleppt worden war, hatten wir gewusst, dass ihr Entführer
seine Opfer bis zu drei Tage am Leben ließ. Jetzt deutete nichts darauf hin, dass York seine Opfer länger am Leben ließ, als
er musste.
Sam könnte bereits tot sein.
Voller Unruhe verließ ich die Küche. Ein Team der Spurensicherung war auf dem Weg, aber niemand erwartete ernsthaft, dass
die Beamten wichtige Spuren im Haus finden würden. Trotzdem achtete ich darauf, nichts anzufassen, als ich ins Wohnzimmer
ging. Es war ein gemütlicher, heiterer Raum mit einem weichen Sofa und Sesseln und einem Couchtisch, auf dem ein paar Magazine
lagen. Er war viel mehr von Sams Persönlichkeit geprägt als von Pauls. Ein mit Bedacht eingerichtetes Zimmer, in dem man sich
aber wohl fühlen sollte und das nicht nur zur Bewunderung da war.
Als ich hinausgehen wollte, fiel mein Blick auf einen kleinen Fotorahmen, der auf einer Kommode mit Rauchglastüren stand.
Das Bild war ein fast abstraktes schwarzweißes Muster, doch der Anblick traf mich wie ein Schlag in den Magen.
Es war ein Ultraschallbild von Sams Baby.
Ich schloss die Wohnzimmertür hinter mir und ging in die Diele. Vor der Eingangstür blieb ich stehen und versuchte mir vorzustellen,
was geschehen war.
An der Tür klopft es. Sam
macht auf und sieht einen Sanitäter vor sich stehen. Sie wird
verwirrt sein und denkt, dass es nur eine Verwechslung sein
kann. Wahrscheinlich lächelt sie, als sie den Irrtum aufklären
will. Und dann …?
Vor der Haustür standen Büsche, der große Ahornbaum im Garten verdeckte den Blick noch mehr. Aber York hatte bestimmt jedes
Risiko vermieden, gesehen |327| zu werden. Also hatte er sich den Zutritt ins Haus entweder erschlichen und erzwungen, sie dann schnell überwältigt und in
den Rollstuhl verfrachtet.
Schließlich hatte er sie ungeniert über den Weg zu seinem wartenden Krankenwagen geschoben.
Auf dem Boden neben der Fußleiste fielen mir weiße Flecken auf dem beigefarbenen Teppich auf. Als ich mich hinunterbeugte,
um genauer nachzuschauen, zuckte ich zusammen, denn in dem Moment ging die Haustür auf.
Jacobsen blieb stehen, als sie mich auf dem Boden der Diele knien sah. Ich stand auf und deutete auf die weißen Flecken.
«Sieht aus, als hätte es York eilig gehabt. Und nein, ich habe nichts angefasst.»
Sie untersuchte den Teppich, dann die Leiste daneben. Auf dem Holz waren Kratzspuren zu sehen.
«Farbe. Er muss mit dem Rollstuhl gegen die Randleiste gestoßen sein», sagte sie. «Wir haben uns gefragt, wie York Professor
Irving aus dem Wald gebracht hat. Bis zum nächsten Parkplatz ist es gut eine halbe Meile. Das ist ein langer Weg, um einen
erwachsenen Mann zu tragen, besonders wenn er bewusstlos ist.»
«Glauben Sie, dabei hat er auch einen Rollstuhl benutzt?»
«Das würde einiges erklären.» Sie schüttelte den Kopf, anscheinend verärgert, dass sie erst jetzt darauf gekommen war. «In
der Nähe der Stelle, wo Irving verschwunden ist, haben wir Spuren auf dem Waldweg entdeckt, die von Fahrradreifen zu stammen
schienen. Die Gegend ist bei Fahrradfahrern beliebt, deswegen sind wir der Sache damals nicht weiter nachgegangen. Aber Rollstühle
können ähnliche Reifen haben.»
Und selbst wenn York gesehen worden wäre, wie er den bewusstlosen Irving über den Weg geschoben hatte, wer hätte |328| sich etwas dabei gedacht? Er hätte wie ein Pfleger gewirkt, der einen Kranken in der frischen Luft spazieren führte.
Wir gingen zurück in die Küche. Ich sah, dass Jacobsen zur Kaffeemaschine schaute. Ohne zu fragen, schenkte ich ihr eine Tasse
ein und füllte meine nach.
«Und wie schätzen Sie die Lage ein?», fragte ich leise, als ich ihr die Tasse reichte.
«Es ist noch zu früh, um etwas sagen zu können …», begann sie und hielt dann inne. «Wollen Sie, dass ich ehrlich bin?»
Nein
. Ich nickte.
«Ich glaube, York ist uns die ganze Zeit zwei Schritte voraus gewesen. Er hat uns glauben lassen, dass Sie sein Ziel sind,
und ist dann hier hereinspaziert, während wir ihn woanders gesucht haben. Jetzt muss Samantha Avery für unsere Fehler büßen.»
«Glauben Sie, dass sie noch rechtzeitig
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