Leichenblässe
und schaute besorgt zu, wie ich die Wunde mit Antiseptikum reinigte. Tom war zum Sarg gegangen.
«An welcher Stelle hast du die Leiche angefasst?»
«Äh, an der Schulter. Auf der rechten Seite.»
Tom beugte sich tiefer, um genauer nachzuschauen, berührte die Leiche aber nicht. «Da ist etwas. Summer, reichen Sie mir bitte
die Zange?»
Er griff mit dem Instrument in den Sarg und packte den Gegenstand, der in dem verwesten Fleisch steckte. Nachdem er vorsichtig
daran gewackelt hatte, konnte er ihn herausziehen.
«Was ist es?», fragte Kyle.
Tom hatte eine neutrale Miene aufgesetzt. «Sieht aus wie die Nadel einer Spritze.»
«Eine
Nadel
?», schrie Summer auf. «O mein Gott, er hat sich mit einer Nadel gestochen, die in der Leiche gesteckt hat?»
Tom warf ihr einen wütenden Blick zu. Aber uns allen war das Gleiche durch den Kopf gegangen. Als Mitarbeiter einer Leichenhalle
war Kyle wahrscheinlich gegen die meisten Krankheiten geimpft worden, die von Leichen übertragen werden konnten, gegen manche
gab es jedoch keinen Schutz. Die nötige Sorgfalt vorausgesetzt, bestand normalerweise nur ein geringes Risiko.
Es sei denn, man hatte eine offene Wunde.
|119| «Ich bin mir sicher, dass kein Anlass zur Sorge besteht, aber wir sollten dich trotzdem lieber in die Notaufnahme bringen»,
sagte Tom äußerlich ruhig. «Zieh dich doch gleich um, ich warte dann draußen auf dich.»
Kyles Gesicht war weiß geworden. «Nein, mir geht’s gut, wirklich …»
«Das glaube ich, aber um sicherzugehen, werden wir dich untersuchen lassen.» Sein Ton ließ keine weitere Diskussion zu. Betäubt
tat Kyle, was ihm gesagt worden war. Tom wartete, bis sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte. «Summer, sind Sie absolut
sicher, dass Sie nichts berührt haben?»
Sie war blass geworden und nickte schnell. «Ich hatte keine Gelegenheit dazu. Ich wollte Kyle helfen, die Leiche anzuheben,
als er … Mein Gott, glauben Sie, dass alles in Ordnung ist mit ihm?»
Tom antwortete nicht. «Sie können sich auch gleich umziehen, Summer. Ich sage Ihnen Bescheid, wenn ich Sie brauchen sollte.»
Sie entgegnete nichts. Als sie hinausging, steckte Tom die Nadel in ein kleines Probengläschen.
«Soll ich Kyle begleiten?», fragte ich.
«Nein, ich bin dafür verantwortlich. Du machst solange mit der anderen Leiche weiter. Ich möchte, dass niemand mehr in die
Nähe des Sargs kommt, bis ich die Leiche eigenhändig geröntgt habe.»
So zornig hatte ich ihn noch nie gesehen. Es war möglich, dass die Spritzennadel abgebrochen und unbeabsichtigt in die Leiche
eingedrungen war, aber das erschien höchst unwahrscheinlich. Ich war mir nicht sicher, was verstörender war: der Gedanke,
dass die Nadel absichtlich dort deponiert worden war oder was diese Tatsache bedeutete.
Dass jemand die Exhumierung der Leiche erwartet hatte.
|120|
Dein erstes Mal war eine Frau. Sie war mehr als doppelt
so alt wie du und so betrunken, dass sie kaum still sitzen
konnte. Du hast sie in einer Kneipe gesehen, schlampig und
verblüht, das Gesicht ausgezehrt und rot, gelbe Nikotinflecken
an den Fingern. Immer wieder ist sie vom Barhocker
gerutscht und umhergetaumelt. Und wenn sie ihren Kopf
zurückgeworfen und auf den flimmernden Fernseher hinter
der Theke geglotzt hat, hat ihr verschleimtes Lachen wie eine
Sirene geklungen.
Du hast sie sofort gewollt.
Du hast ihr den Rücken zugewandt und sie vom anderen
Ende des Raumes im Spiegel beobachtet. Zigarettenqualm
umwaberte sie, als sie sich nach und nach den meisten
Männern in der Kneipe an den Hals warf. Jedes Mal bist du
eifersüchtig zusammengezuckt. Doch jedes Mal sind ihre
Avancen angewidert abgewiesen worden. Sie ist zurück zu
ihrem Hocker getorkelt und hat lautstark einen neuen Drink
verlangt, um ihre Enttäuschung zu ertränken. Und du bist
immer nervöser geworden, weil du wusstest, dass es in dieser
Nacht passieren würde.
So sollte es sein.
Du hast gewartet, bis sie die Geduld des Barkeepers erschöpft
hat. Während sie ihn noch angeschrien hat, mal
fürchterlich fluchend, mal weinerlich flehend, bist du unbemerkt
hinausgeschlichen. Draußen hast du deinen Kragen
aufgestellt und dich im nächsten Hauseingang versteckt. Es
war Herbst, der Dunst des Regens hat die Straßen vernebelt
und das gelbe Licht der Straßenlaternen gedämpft.
Du hättest dir keine bessere Nacht wünschen können.
Du hast länger warten müssen, als du dachtest. Und während
du zitternd vor Kälte und
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