Leichenblässe
symbolisch. Zuerst dachte ich, dass der Mörder seine Sexualität verleugnen würde und seine
unterdrückten sexuellen Triebe in Gewalt umwandelt. Aber das hier wirft ein anderes Licht auf die Dinge. Das erste Opfer ist
mit einem Tuch bedeckt und vergraben worden – es wurde beinahe schamhaft versteckt. Jetzt, sechs Monate später, ist die Leiche |113| in der Hütte zur Schau gestellt worden, damit sie jeder sehen kann. Alles schreit: ‹Schaut mich an! Schaut, was ich getan
habe!› Nachdem er sein altes Ich ‹beerdigt› hat, kommt der Mörder nun sozusagen aus seinem Versteck. Und angesichts des gewaltigen
Unterschiedes, mit dem er diese beiden Opfer behandelt hat, würde es mich nicht überraschen, wenn es dazwischen ein paar weitere
Opfer gegeben hat, von denen wir nichts wissen.»
Diese Aussicht schien ihn ziemlich zu erregen.
«Sie glauben also noch immer, dass der Mörder schwul ist», sagte Tom.
«Aber sicher. Was wir hier sehen, bestätigt das nur.»
«Sie klingen sehr überzeugt.» Ich hatte mich eigentlich nicht einmischen wollen, aber so, wie sich Irving aufführte, konnte
ich den Mund nicht halten.
«Wir haben zwei nackte Leichen, beide männlich. Das scheint in diese Richtung zu deuten, meinen Sie nicht?»
«Es ist nicht ungewöhnlich, dass Leichen nackt in die Leichenhalle kommen.Und wenn es keine Familie gibt, die dem Bestatter
Kleidung bringen kann, dann werden sie so beerdigt.»
«Also ist die zweite nackte männliche Leiche nur ein Zufall? Interessante Theorie.» Er bedachte mich mit einem herablassenden
Blick. «Vielleicht können Sie auch erklären, warum der Fingerabdruck von Dexter auf der Filmdose mit Babyöl verschmiert war?»
Meine Überraschung spiegelte sich in Toms Gesicht. Irving tat erschrocken.
«Oh, tut mir leid, hat Gardner das nicht erwähnt? Ich nehme an, es gab keinen Grund dafür. Aber wenn der Mörder keine Vorliebe
für Feuchtigkeitscremes hat, kann ich mir nur einen Grund vorstellen, warum er in der Hütte Babyöl benutzt hat.»
|114| Er hielt einen Moment inne und ergötzte sich an seiner Bemerkung, ehe er fortfuhr.
«Darüber hinaus würde ein sexuelles Motiv die verschiedenen ethnischen Profile der Opfer erklären. Der entscheidende gemeinsame
Nenner ist nicht die Hautfarbe, sondern die Tatsache, dass es Männer sind. Nein, wir haben es hier zweifelsohne mit einem
Sexualtäter zu tun, und da Willis Dexter nicht in seinem Grab gelegen hat, würde ich sagen, dass er ein recht wahrscheinlicher
Kandidat ist.»
«Nach allem, was Dan gesagt hat, glaube ich nicht, dass Dexter eine Vorstrafe oder irgendeine kriminelle Vergangenheit hat»,
sagte Tom.
Irving lächelte selbstgefällig. «Das haben die wirklich cleveren Täter nie. Sie halten sich im Verborgenen, häufig als respektierte
Mitglieder der Gesellschaft, bis sie entweder einen Fehler begehen oder sich freiwillig zu erkennen geben. Krankhafter Narzissmus
ist kein ungewöhnliches Merkmal bei Serienmördern. Irgendwann wollen sie ihr Licht nicht mehr unter den Scheffel stellen und
lassen in der Öffentlichkeit die Muskeln spielen. Glücklicherweise stolpern die meisten schließlich über ihre eigene Eitelkeit.
Wie in diesem Fall.»
Irving deutete theatralisch auf die Leiche im Sarg. Mittlerweile hatte er einen beinahe dozierenden Ton angenommen, als wären
Tom und ich ein paar nicht besonders helle Erstsemesterstudenten.
«Da es logistisch nicht ganz einfach ist, Leichen zu vertauschen, muss es im Bestattungsunternehmen jemanden gegeben haben,
der Dexter geholfen hat», fuhr er mit voller Inbrunst fort. «Entweder hat Dexter selbst dort gearbeitet – was bei seinem Hintergrund
als Schlosser oder was auch immer eher unwahrscheinlich ist –, oder er hatte einen Komplizen. Einen Liebhaber vielleicht. Es ist sogar möglich, dass |115| sie als Team gearbeitet haben; einer dominant, der andere unterwürfig. Also, das wäre wirklich interessant.»
«Faszinierend», brummte Tom.
Irving sah ihn giftig an, als würde er erst jetzt vermuten, dass er Perlen vor die Säue warf. Aber uns blieben seine weiteren
möglichen Einsichten erspart, weil in diesem Moment Summer hereinkam.
Als sie uns vor dem Sarg versammelt sah, blieb sie in der Tür stehen. «Oh! Tut mir leid. Soll ich draußen warten?»
«Meinetwegen nicht», sagte Irving und beehrte sie mit einem breiten Lächeln. «Obwohl ich mich natürlich Dr. Lieberman beugen muss. Er hat ziemlich strenge Ansichten, wenn
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